We view cultural commitment and support as a corporate responsibility, because art and culture are key elements for the preservation and development of society. Every year we publish the book series EDITION LOGIKA – an art collection from Germany. The book series is not freely available on the market; A thousand numbered copies are available just for our clients. In this way, we also promote museum awareness.
The book series EDITION LOGIKA is only available in German.
Anne Funck has been working as an editor for LOGIKA GmbH since 2019. She completed a degree in art history with minors in archeology and church history at the Ludwig Maximilians University, Munich
Anne Funck, editor of the book series EDITION LOGIKA
The latest book series of EDITION LOGIKA is dedicated to the HfG Archive Ulm. The museum is looking forward to your visit!
https://hfg-archiv.museumulm.de/Gestaltung für die Demokratie – mit dieser Maxime lässt sich das Großprojekt »Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG)« überschreiben, die als erste Ausbildungsstätte für Design der jungen Generation im Nachkriegsdeutschland eine Zukunft wies, in der Freiheit, Menschlichkeit und Mitbestimmung zu den Prinzipien zählten. Von den ersten Ideen der Initiatoren Inge Scholl und Otl Aicher mit dem Schweizer Architekten Max Bill über die Grundsteinlegung des Hochschulgebäudes am Oberen Kuhberg, der offiziellen Eröffnung 1955, dem regen Unterrichtsgeschehen bis zur Auflösung der Institution 1968 erzählt das HfG-Archiv bei einem Rundgang durch die Dauerausstellung. Die Exponate, die hier gezeigt werden und das Depot füllen, entstammen der Stiftung Hochschule für Gestaltung HfG Ulm, ehemals Geschwister-Scholl-Stiftung, die im Zuge der Gründung des HfG-Archivs im Jahr 1987 der Stadt Ulm dauerhaft übergeben wurden.
Aus dem hochschuleigenen Archiv mit originalen Akten, Grafiken, Objekten, Fotografien, Nachlässen und Schenkungen sticht ein Ausstellungsstück heraus: Es ist das denkmalgeschützte Hochschulgebäude selbst, das von 2012 bis 2014 saniert wurde und – neben einer Reihe von gewerblichen Nutzungen – das HfG-Archiv beherbergt. In seiner Doppelfunktion als Museum und Archiv kommt es damit unmittelbar in den historischen Räumlichkeiten der Aufgabe nach, die Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm umfassend zu dokumentieren und ihre Inhalte und Bedeutung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen: im Rahmen von Ausstellungen auf einer Präsentationsfläche von 275 Quadratmetern, Publikationen und Veranstaltungen, oder durch die Möglichkeit zu wissenschaftlicher Forschung, zu deren Zweck im Lesesaal des Archivs mehrere Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Neben der Nutzung der Bibliothek lassen sich hier zahlreiche Findmittel einsehen sowie Archivalien und Typoskripte vorlegen.
Was sich dort offenbart, ist das lebendige Zeugnis einer progressiven Ideenschmiede, die mit Dozenten wie Otl Aicher, Walter Peterhans, Josef Albers, Helene Nonné-Schmidt, Hans Gugelot, Tomás Maldonado, Tomás Gonda, Herbert W. Kapitzki, Walter Zeischegg, Max Bense, Gert Kalow, Alexander Kluge, Edgar Reitz und vielen anderen Neuland beschritt: »Diese Schule ist ein Experiment. Sie ist etwas Neues. Mit neuen Gedanken und neuen Methoden«, beschrieb der amerikanische Hochkommissar und oberste Vertreter der US- Regierung John J. McCloy, der für die Demokratisierung der jungen Bundesrepublik eingesetzt worden war, zu Beginn des Unterfangens das Hochschulprojekt, das er selbst beförderte. In Anbetracht der deutschen faschistischen Vergangenheit begrüßte er die »gründliche Ausbildung mit sozialem Verantwortungsgefühl und kultureller Aufgeschlossenheit«, die den Studierenden gegeben werden sollte, um qualitativ hochwertig gefertigte und gut gestaltete Produkte zu erschwinglichen Preisen zu schaffen, die den Lebensstandard der breiten Bevölkerung erhöhen und den Grundstein zu einer neuen materiellen Kultur legen.
In der Folge entwickelte sich an der HfG Ulm das Berufsbild des Industriedesigners, das für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus Gültigkeit haben sollte und dessen Innovationen Otl Aicher in der Rückschau unter dem Begriff Ulmer Modell subsummierte: »ein auf technik und wissenschaft abgestütztes modell des design. der designer [ist] nicht mehr übergeordneter künstler, sondern gleichwertiger partner im entscheidungsprozess der industriellen produktion.«
Dieses Leitmotiv bildet bis heute, über 50 Jahre nach dem Ende der HfG Ulm, die Grundlage für die Ausbildung von Gestalterinnen und Gestaltern, wie sich an den vielen ikonischen Entwürfen, die in Ulm entstanden und ihr »geistiges Erbe« ausmachen, ablesen lässt: Der Ulmer Hocker, ein Klassiker, der aus der Not geboren wurde, der Schneewittchensarg, ein Plattenspieler mit Acrylglasdeckel, das platzsparende Stapelgeschirr TC 100 oder die Junghans Küchenuhr sind nicht nur Liebhaberstücke und Kultobjekte der Designgeschichte, sondern wechselten längst aus dem häuslichen Alltag in die Sammlungen von Museen. Aber auch Utopien finden sich darunter, wie Die anpassbare Wohnung mit modularem Grundriss oder Wohnbauten mit veränderlicher Nutzung. Sie alle schreiben ein Stück Zeitgeschichte von der Wirtschaftsnot zum Wirtschaftsaufschwung und prägen, wie die Beispiele der legendären Hamburger Hochbahn oder des mustergültigen Erscheinungsbilds der Deutschen Lufthansa, Bilder, die in unserem Gedächtnis ebenso fest verankert sind wie bei der ehemaligen Studentenschaft die ausschweifenden Feten auf dem Kuhberg, wo sich der Campus offen und transparent mit weiten Sichtachsen rund um die Gemeinschafts- und Arbeitsräume erstreckte: vom frequentierten Hochschulgebäude mit Werkstätten, Mensa und wellenförmiger Bar, Wohntürmen, Dozentenhäusern und einer weitläufigen Terrasse, die nicht auf Grenzen setzte, sondern auf Visionen.
Der Dank für die diesjährige Kooperation richtet sich an den Leiter des HfG-Archivs, Dr. Martin Mäntele, der, unterstützt von seinem Team, in diesem Band nicht nur die Wege zur Hochschule für Gestaltung Ulm erschließt, sondern auch die Werkstätten öffnet, in denen weltweit vernetzte Dozenten und Studierende Pionierarbeit leisteten und die Basis dafür schafften, ein großes Verständnis zu entwickeln, was durchdachtes Design bedeutet, um mit der Zeit und ihren Entwicklungen Schritt zu halten und das eigene Umfeld zu gestalten.
LOGIKA GmbH November 2023
»Ich, Karl Ernst Osthaus, bin am 15. April 1874 zu Hagen in Westfalen geboren.« Mit diesem Satz beginnt die persönliche Schilderung des Lebenslaufes eines Visionärs, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere »Institute, die wissenschaftlichen und künstlerischen Zwecken dienen sollten«, gründete. Seiner Heimatstadt Hagen erteilte der junge Kunstmäzen bei seinen Museumsgründungen die Hauptrolle. So eröffnete er hier mit 28 Jahren 1902 das Folkwang-Museum, damals das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst, 1909 das Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe, ein mobiles Designmuseum, das in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Werkbund und dem Folkwang-Museum entstand und mit seinen Wanderausstellungen international Aufsehen erregte.
Anders als seine Zeitgenossen, die den Standort Hagen kritisierten, weil nur in einer »Weltstadt« die Schätze eine angemessene Würdigung erfahren, erkor Karl Ernst Osthaus bewusst die Provinzstadt am Rande des Ruhrgebietes zum Dreh- und Angelpunkt seines Wirkens, um einer »geistige[n] Verflachung« der Menschen entgegenzutreten: »Nirgends wären Museen notwendiger als in den immer gewaltiger anwachsenden Industriestädten, und doch sind sie nirgends seltener.« Dahinter stand die Absicht, das gesellschaftliche Leben durch Kunst positiv zu beeinflussen und das traditionelle Kunstgewerbewesen zu reformieren.
Hagen als kulturelle Diaspora bot Osthaus, der zahlreiche Reisen bis in den Orient unternahm und sich dort in Kunst und Architektur schulte, zudem die Gelegenheit, mit seinem »empfindlich gewordenen Auge« das Stadtbild mitzugestalten: »Besonders war mein Augenmerk darauf gerichtet, Künstler an die Stätte meines Wirkens zu ziehen und ihnen Aufgaben zuzuwenden.« Unter den progressiven Architekten, deren Wirkung später als »Hagener Impuls« in die Kunstgeschichte eingehen sollte, fand sich Henry van de Velde, der dem Inneren des Hagener Folkwang-Museums eine Jugendstilästhetik einschrieb. Den Höhepunkt seines Schaffens errang er mit der Privatvilla Hohenhof, die Karl Ernst Osthaus mit seiner Familie 1908 bezog. Der ebenfalls von Osthaus eingeladene Peter Behrens entwarf den Bebauungsplan für die Künstlerkolonie Gartenstadt Hohenhagen, an der auch verschiedene Architektenkollegen mitarbeiteten. Der angesehene Bruno Taut, der schon Industriebauten realisiert hatte, lieferte für die Stadtkrone den Idealentwurf für eine Folkwang-Schule, einer organischen städtebaulichen Verbindung von Folkwang-Museum und Gartenstadt mit Sternwarte, einer Schule mit Gutshof, Werkstätten und Wohnhäusern.
Nicht nur kriegsbedingt ließen sich diese Utopie und weitere Reformbestrebungen von inzwischen internationaler Strahlkraft nicht oder nicht vollständig realisieren. Auch der frühe Tod Karl Ernst Osthaus’ am 27. März 1921 setzte den Planungen ein Ende. Im Jahr nach seinem Tod wurde der gesamte Bestand des privaten Folkwang-Museums von den Erben an die Stadt Essen verkauft und dort zum Grundstock des heutigen Museum Folkwang in Essen. Die Sammlungen des Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe wiederum gelangten in den Besitz des Kaiser-Wilhelm-Museums Krefeld.
Doch längst war der Samen, den Osthaus gepflanzt hatte, aufgegangen. Obwohl neben der Sammlung auch das Museumsgebäude veräußert worden war, gab es in Hagen bereits in den 1920er Jahren Initiativen, Kunstausstellungen zu organisieren und neue Bestände aufzubauen. Nach den dunklen Jahren des NS-Regimes wurde noch im Jahr 1945 in der teilweise zerstörten Villa Post mit der Einrichtung eines neuen Museums begonnen, das nach dem Rückkauf des ehemaligen Folkwang-Gebäudes durch die Stadt Hagen 1955 in die früheren Räumlichkeiten einzog. Die kluge Ankaufspolitik einer umsichtigen Museumsdirektorin, die mit Blick auf Osthaus’ Mäzenatentum Werke seiner von ihm geschätzten Künstler erwarb, sowie Schenkungen führten dazu, dass das Osthaus Museum Hagen eine beispielhafte Sammlung einschließlich einem größeren Konvolut von Christian Rohlfs und der Korrespondenz von Karl Ernst Osthaus zusammentrug, die ihre Nachfolger bildhaft in die Gegenwart führten.
»Beispiel ist alles« – dieser Gedanke, den der Visionär Osthaus einst in Bezug auf die Planungen für die Künstlerkolonie formulierte, lässt sich heute an den Präsentationsorten wie dem ehemaligen Folkwang-Museum, einem modernen Neubau und der Villa Hohen-hof einlösen, aber auch in diesem Buch, das in einer fruchtbaren Kooperation mit dem Osthaus Museum entstand. Herzlich sei hierfür dem Direktor und künstlerischen Leiter Dr. Tayfun Belgin, der stellvertretenden Direktorin Dr. Birgit Schulte sowie der Autorenschaft Reinhold Happel, Christine Kracht, Elisabeth May, Vincent Schmidt, Karoline Urbitzek und Bettina Sarnes, der Leiterin der Dokumentation, gedankt. Mit ihrer Vorstellung der eindrucksvollen Person Karl Ernst Osthaus und einer Fülle an künstlerischen Höhepunkten vom Jugendstil über Impressionismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit hin zu wegweisenden Kunstströmungen der Gegenwart geben sie Einblick in den Werdegang eines Museums, das Wandlungen unterworfen war, aber heute – wie einst – international Aufsehen erregt.
LOGIKA GmbH November 2022
»Licht sei sein Loos. Ist der Herr nur das Herz und die Hand des Baus, mit den Linden im Land wird auch sein Haus schattig und groß.« Dieser Spruch stammt aus der Feder von Rainer Maria Rilke und prangt über der Dielentür an der Nordfassade des »Barkenhoff« – dem Wohnhaus von Heinrich Vogeler, der hier gemeinsam mit seiner Frau Martha Künstlerfreunde empfing. Zum frühen Kreis gehörten auch Fritz Mackensen, Otto Modersohn und Hans am Ende, die als erste Generation an Künstlern das Dorf Worpswede unweit von Bremen im Teufelsmoor für sich entdeckten und eine Künstlerkolonie begründeten. In den folgenden Jahren entwickelte sich Worpswede zu einem »Weltdorf der Kunst«, wie Fritz Mackensen feststellte. Oder ein »Dorf der Weltkunst«, wie der diesjährige Band der EDITION LOGIKA offenbart. Denn die Abkehr von den Akademien und die Hinwendung zur freien Natur als wahre »Lehrerin« bedeutete den Aufbruch in die Moderne, welche vor allem die Malschülerinnen, denen der Zugang an Kunstakademien versagt war, als Pionierinnen vorantrieben. Neben Paula Modersohn-Becker, die Weltruhm genießt, finden herausragende Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter ebenso wie Nachfolger Anschauung in insgesamt sechs Museen und zahlreichen historischen Stätten, die sich in einer ungeheuren Dichte über das knapp 6000 Einwohner zählende Dorf Worpswede verteilen.
Aufbruch, Umbruch, Erneuerung sind die Merkmale auch der Worpsweder Museumslandschaft, die sich seit den 2000ern zukunftsfähig ausrichtet. 2010 schlossen sich unter der Federführung des Landkreises Osterholz vier zentrale Ausstellungshäuser zum Museumsverbund zusammen: das Heinrich-Vogeler-Museum im eingangs erwähnten »Barkenhoff«, den Heinrich Vogeler als Gesamtkunstwerk des Jugendstils gestaltete; die »Worpsweder Kunsthalle« mit Exponaten von den Anfängen bis zur Gegenwart; das »Haus im Schluh«, ein Zusammenschluss aus typischen Niedersachsenhäusern mit Reetdächern, das Martha Vogeler nach der Trennung von ihrem Mann mit originalem Inventar aus Kunstwerken und Mobiliar aus dem »Barkenhoff« bezog; und die »Große Kunstschau«, ein von Bernhard Hoetger expressionistisch und architektonisch von Weltkulturen beeinflusstes Ensemble aus Kaffee Worpswede, Logierhaus und Ausstellungsbau, das in den 1970ern modern ergänzt wurde und rund 130 Jahre Kunstschaffen vorstellt.
Einer einmaligen Förderung aus Europäischen Fonds und des Landes Niedersachsen sowie privaten Geldgebern ist es zu verdanken, dass infolge umfangreicher Sanierungsarbeiten die historische Substanz gerettet und internationale Museumsstandards eingeführt werden konnten. Eine Erweiterung der Flächen durch moderne Anbauten und die gemeinsame inhaltliche Ausrichtung ermöglichen eine Präsentation von häuserübergreifenden Ausstellungen, die neben den Worpsweder Pionieren zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern Raum geben, das kulturelle Erbe neu zu interpretieren, »Worpswede« weiterzuführen und zu bereichern. Für die umfassende Kooperation auch im Rahmen dieses Buches sowie die reichhaltigen Einblicke in die Erneuerungsprozesse der letzten Jahrzehnte, den Bestand der Museen sowie den Überblick über die Sehenswürdigkeiten sei an dieser Stelle Matthias Jäger, dem Geschäftsführer des Museumsverbundes, sowie der Autorenschaft Beate C. Arnold, Jörg van den Berg, Gesa Jürß und Birgit Nachtwey ausdrücklich gedankt.
Aus der Kunst- und Kulturgeschichte Worpswedes schöpfen, ohne sich in ihr zu erschöpfen, Grenzen überschreiten, in den Ort hineinwirken, sich den Fragen der Gegenwart stellen: Dies sind die Leitlinien der aktuellen Ausstellungsarbeit der Worpsweder Museen, die dank kulturellen Engagements von Leihgebern und finanzieller Förderung von Mäzenen immer wieder neue Impulse setzen können. Unter diesen Vorzeichen ist mit Spannung zu erwarten, was die Jahre 2022, 2024 und 2025/26 bescheren, wenn Heinrich Vogeler, Bernhard Hoetger und Paula Modersohn-Becker ihre 150. Geburtstage feiern.
LOGIKA GmbH November 2021
Seit knapp drei Jahrzehnten beherbergt das sogenannte »Laboratorium«, ein militärischer Zweckbau aus der preußischen Zeit der Festung Saarlouis, das Institut für aktuelle Kunst im Saarland. 1821 im Rahmen der Instandsetzung der Stadtbefestigung entstanden, um hier Munition herzustellen, diente es später wirtschaftlichen Zwecken, bis es 1993 einer kulturellen Nutzung zugeführt wurde. Ausschlaggebend für diesen Schritt war das gemeinsame Interesse an Kunst im öffentlichen Raum, das der Oberbürgermeister der Kreisstadt Saarlouis, Richard Nospers, und der Gründungsrektor der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken, Prof. Jo Enzweiler, teilten. Ihre Gespräche mündeten in die Idee, ein Institut für aktuelle Kunst im Saarland zu gründen, ein Dokumentationszentrum, das zugleich auch ein Ort der Begegnung, des Austausches und der Kunstvermittlung sein würde. Dafür wählten sie die juristische Form eines An-Instituts der HBKsaar. Zur Finanzierung wurde die Gesellschaft der Förderer gegründet.
Die ruhige Lage am Rande der Saarlouiser Innenstadt und das zurückhaltende Äußere des Baus mögen bei einem »Kunst-Institut« vielleicht die Anmutung eine Refugiums in der Art eines »Elfenbeinturms« hervorrufen – aber, weit gefehlt: Die ursprüngliche Bezeichnung der Funktion des Hauses trifft hier viel besser: Pulvermagazin. Hier lagerte ehemals das preußische Militär die Ingredienzien zum Mischen explosiven Schießpulvers. Ohne die Metaphorik zu sehr zu strapazieren – so weit entfernt ist ein Vergleich zwischen dem Institut für aktuelle Kunst und einem Pulverlabor nicht. Dies mag der in diesem Band präsentierte Querschnitt durch den Katalog der Aktivitäten und Tätigkeiten des Instituts für aktuelle Kunst verdeutlichen.
Die Arbeit des Instituts ist in erster Linie auf das Kunstgeschehen des Saarlandes ausgerichtet, welches als kleinstes Flächenland der Bundesrepublik ein regional überschaubares und abgrenzbares Forschungsfeld darstellt. Das Bestreben der Institutsarbeit ist, zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen und deren Arbeiten auf dem Gebiet der bildenden Kunst wissenschaftlich zu begleiten, Informationen zu sammeln, zu archivieren und in aufbereiteter Form zu publizieren. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Gebiet der Kunst im öffentlichen und im sakralen Raum. Im Laufe der Jahre erweiterte sich die Aufgabenstellung um die Bewahrung und Erforschung von Künstlernachlässen und den Aufbau einer Sammlung von ausleihbaren Kunstwerken, der Artothek Saar.
Bei der Lektüre dieses Buches wird deutlich, dass es sich bis dato um eine Institution handelt, die über einen Förderverein ihre Aktivitäten von der Gründung an schwerpunktmäßig über Spendengelder finanziert, auf Bedürfnisse flexibel reagiert und in ihrer Art einzigartig wie vorbildlich ist: Das kleine Bundesland Saarland kann auf diese Weise zentral das Kunstschaffen begleiten und dokumentieren. Zugleich fördert es und bietet Hilfestellung, Nachlässe von Künstlern fachgerecht zu erfassen und zu verwahren – Kunst, die morgen in Museen und Ausstellungshäusern Bedeutung erlangen wird. Dies geschieht mittels verschiedener Medien, auf analoge Weise ebenso wie über digitale Plattformen, die Pionierarbeit in der Verbreitung von Kunst leisten. Davon nehmen auch die Nachbarn Notiz, wie zum Beispiel das Land Luxemburg, das jüngst um Beratung gebeten hat.
Nach knappen 30 Jahren unter der Leitung von Prof. Jo Enzweiler, dem an dieser Stelle mitsamt Team für die Realisierung dieses Jahrbuches gedankt sei, bahnt sich nun eine Umstrukturierung an: Es zeichnet sich die Bereitschaft der Landesregierung ab, das Institut durch die Integrierung in die Hochschule der Bildenden Künste Saar auf Dauer zu sichern. Damit könnte ein beispielloses Projekt, das bereits über 30 Jahre währt und seit 27 Jahren im Laboratorium untergebracht ist, unter neuem Vorzeichen in einer hoffnungsvollen Zukunft weiterwirken.
LOGIKA GmbH November 2020
»Kunst- und Kulturgeschichte eines berühmten Dorfes«, lautet der Untertitel der diesjährigen EDITION LOGIKA, die sich dem Oberammergau Museum und seiner Sammlung widmet. Hier klingt bereits an, wie eng das Museum mit dem Dorf Oberammergau verknüpft ist, das trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – seiner geografischen Lage im Alpenraum im Laufe der Jahrhunderte einen Ruf erworben hat, der weltweit ein Begriff ist. Maßgeblich für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung war die unmittelbare Anbindung an die sogenannte »Rottstraße«, dem Fernhandelsweg zwischen Venedig und Augsburg, die den Handel und damit den Austausch in ganz Europa begünstigte. Ebenso wichtig für den künstlerischen Aufschwung erwies sich die Nähe zum Wallfahrtsort Kloster Ettal, das jenseits des Kofels, des steil aufragenden Bergs und Wahrzeichen Oberammergaus, liegt, denn in dessen zahlreichen Besuchern fanden sich dankbare Abnehmer kunsthandwerklicher Produkte.
Eine entscheidende Rolle bei der Museumsgründung spielten die Leidenschaft und das Engagement des Unternehmers Guido Lang, der im Zentrum von Oberammergau einen Verlag betrieb. Gemeint ist hier nicht der Verlag, den wir heute im Sprachgebrauch mit Büchern verbinden, sondern es geht buchstäblich um das Verlegen von Waren von einem Ort zum anderen – mit der Kraxe von Haustür zu Haustür, mit dem Rottwagen über die Fernstraße zu den Handelswegen durch ganz Europa und über den Seeweg in alle Welt. In seiner Begeisterung für die Kunst und Kultur seiner Heimat, die er den nachfolgenden Generationen überliefern wollte, engagierte Guido Lang für die Bauplanung seines Museums den Münchner Architekten Franz Zell, der – wie er selbst auch – sich im neu gegründeten Verein für Volkskunst und Volkskunde für die Bewahrung kunsthandwerklicher Schätze und Traditionen einsetzte.
Dabei lag der Gedanke zugrunde, anhand von verschiedenen Objekten bis hin zu Raumensembles Kunstfertigkeiten vorzustellen, die angesichts der Massenfertigung in Zeiten der Industrialisierung am Verschwinden waren: etwa die Holzschnitzereien, die von minutiösen Feinschnitzereien in einer Nussschale bis zu überlebensgroßen Figuren variieren und von der hohen Kunst- und Fingerfertigkeit ganzer Großfamilien zeugen, die als »Herrgottschnitzer« ebenso wie als Hersteller von Spielwaren auch das bayerische Königshaus belieferten; die Hinterglasmalerei, die durch ihre Leuchtkraft bezaubert und der künstlerischen Avantgarde wie der Künstlergruppe »Blauer Reiter« Impulse für die moderne Malerei gab. Über die Jahrzehnte wuchs die Sammlung an. Heute findet sich hier etwa die Historische Kirchenkrippe, die König Ludwig II. dazu veranlasste, weihnachtliche Schlittenfahrten von Schloss Linderhof nach Oberammergau zu unternehmen; oder die Zeugnisse der Passionsspiele, im Zuge derer ein ganzes Dorf noch immer alle zehn Jahre ein religiöses Gelöbnis erfüllt. 2020 ist es wieder soweit: Von Mai bis Oktober finden sie zum 42. Mal statt. 2000 Oberammergauer und Oberammergauerinnen jeden Alters werden daran mitwirken, das Pestgelübde von 1633 einzulösen.
Mit der 22. Ausgabe der EDITION LOGIKA stellt das Managementteam LOGIKA Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein Kleinod an Museum vor, das sich einerseits als Refugium bayerischer Geschichte offenbart, andererseits vom regen Austausch mit europäischen Kunst- und Handelszentren erzählt. Für die Unterstützung dieses Projekts gilt der Dank vor allem der Museumsleiterin Dr. Constanze Werner und ihrem Team. Vortrefflich ist es ihr gelungen, mit kenntnisreichen, fachübergreifenden Texten und der sorgfältigen Auswahl von Kunstwerken ein persönliches wie lebhaftes Bild eines Dorfes zu zeichnen, das von jeher Künstler, Kunsthandwerker, Literaten und Musiker zum kreativen Schaffen inspirierte und heute wie früher zum Besuch lockt.
LOGIKA GmbH November 2019
München hatte sich im Mittelalter rasch entwickelt. Mit dem Bau der zweiten Stadtmauer in der Zeit von 1285 bis 1315 wurde die Stadtfläche etwa auf 91 Hektar verfünffacht. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts kam es zu einer Blüte der Spätgotik mit intensiver Bautätigkeit. Die Frauenkirche, im Jahr 1494 geweiht, wurde Münchens Wahrzeichen. Die runden Turmkuppeln, die „Welschen Hauben“, entstanden erst 1525.
Parallel zur Frauenkirche wurde 1470 das Alte Rathaus nach einem Blitzeinschlag wieder aufgebaut. Baumeister war – wie bereits bei der Frauenkirche – Jörg von Halspach. Der spätgotische Festsaal im ersten Stock, auch „Tanzhaus“ genannt, ist mit seinem Tonnengewölbe und der reich verzierten Holzdecke eines der herausragenden Meisterwerke der Stadt. Der Marienplatz erhielt seine heutige rechteckige Form.
Im Jahre 1504 zählte München 13 500 Einwohner. In der Bürgerstadt hatte sich ein breitgefächertes Handwerk entwickelt. Auch hervorragende Künstler kamen nach München – neben dem Baumeister Jörg von Halspach die Maler Jan Pollack und Gabriel Mälesskircher sowie der Bildhauer Erasmus Grasser.
Kulturell erlebte München einen großen Aufschwung. Die Gemäldesammlung des Herzogs Wilhelm IV. bildete den Grundstock für die Alte Pinakothek. Mit der Berufung von Ludwig Senfl begann die Entwicklung des heutigen Bayerischen Staatsorchesters. Für die herzogliche Kunstsammlung wurde die Alte Münze errichtet. Das Zeughaus wurde erbaut; es beherbergt heute das Stadtmuseum. Auch die Tradition des Schäfflertanzes soll in dieser Zeit aufgekommen sein, als Wilhelm IV. der Schäfflerzunft das Recht gab, ihren Tanz alle sieben Jahre aufzuführen.
Unter Herzog Albrecht IV. wurden Ober- und Niederbayern im Jahre 1505 wiedervereinigt. München entwickelte sich von einer Bürgerstadt zur Residenzstadt. Der Herzog hatte in Italien studiert und brachte Begeisterung für Humanismus und Renaissance mit nach Bayern. Die Entwicklung des Buchdrucks trug wesentlich zur Verbreitung des Humanismus bei. Luthers Bibelübersetzung weckte Interesse am Lesen und begünstigte die Entwicklung einer gemeinsamen deutschen Sprache.
Die Reformation führte zu einer Spaltung der abendländischen Christenheit. Die Bayerischen Herzöge hielten am römisch-katholischen Glauben fest und konnten ihre Glaubensüberzeugung vorteilhaft mit der gegenreformatorischen Politik verbinden. Wilhelm IV. hatte Mitglieder des 1540 vom Papst bestätigten Jesuitenordens aus Rom als Doktoren der Theologie an die Universität in Ingolstadt geholt. Es war Herzog Albrecht V., der die Jesuiten schließlich auch nach München berief, um in seiner Residenzstadt Bildung und Kultur zu entwickeln.
Herzog Wilhelm V., von Jesuiten erzogen, übernahm von Albrecht V. im Jahre 1579 die politische Führung. Er verfolgte die Ziele seines Vaters weiter und ergänzte sie mit großer baulicher Gestaltungskraft. Die Renaissance in Verbindung mit dem Humanismus war für ihn die Kunstform, um Bayern zu prägen. Wichtige Anregungen erhielt er aus der Reichsstadt Augsburg, wo die Kaufmannsfamilie der Fugger Künstler aus Italien beschäftigte und nach München weitervermittelte.
Im Jahre 1583 legte Herzog Wilhelm V. den Grundstein für den Bau der Kirche St. Michael und des Kollegs. Die Architekten des Bauplans von St. Michael sind nicht sicher überliefert. Wahrscheinlich haben die Jesuiten, der Steinmetz Wolfgang Miller und der Augsburger Schreiner Wendel Dietrich mitgewirkt.
Selbstverständlich war auch der herzogliche Bauherr an der Planung mitbeteiligt. Der wohl das gesamte Bauwerk und seine Ausstattung prägende Künstler war der „Obrist Paumeister“ Friedrich Sustris, dem Wilhelm V. ab dem Jahr 1590 die oberste Bauleitung übertragen hatte.
Münchens Straßen und Gassen waren eng wie in allen mittelalterlichen Städten. Da war kein Platz, um große Fassaden zu bewundern. Die Jesuitenkirche St. Michael erhielt als Erste eine große Schauwand, Fassade genannt (von italienisch faccia, Gesicht).
Das gesamte Ensemble von Kirche und Kolleg nahm ein Fünftel der damaligen Stadtfläche ein und sollte an Größe mit der Habsburger Königsresidenz Escorial in Madrid vergleichbar sein.
Im Sommer 1586 wurde der Dachstuhl aufgesetzt und von April bis Oktober 1587 das 22 Zentimeter starke Tonnengewölbe mit einer Spannweite von mehr als 20 Metern eingezogen.
Nachdem sich jedoch bereits Risse im Mauerwerk zeigten, stürzte am 10. Mai 1590 der Kirchturm ein und zertrümmerte den Chor. Wilhelm V. ließ das Hauptschiff durch eine Mauer abschließen, so dass die Jesuiten ihre Kirche in Betrieb nehmen konnten, und setzte gegen alle finanziellen Einwände eine großzügige Neuplanung mit einem verlängerten Chorraum und einem Querschiff durch.
Friedrich Sustris plante in diesem Zusammenhang auch den Bau einer Kuppel über der Vierung von Lang- und Querschiff, unter der ein monumentales Grabmal entstehen sollte für den Kirchenstifter Herzog Wilhelm V. und seine Gemahlin Renata von Lothringen. Dieses Projekt wurde allerdings stark reduziert. Die Kuppel wurde nicht realisiert und auch das geplante Grabmal wurde nicht ausgeführt; nur wenige der bereits fertiggestellten bronzenen Elemente wurden bei der Vollendung der Kirche am vorgesehenen Platz an den Stufen zum Chor aufgestellt.
Die vom Malerarchitekten Friedrich Sustris gezeichnete und von Johann Sadeler I als Kupferstich ausgeführte Szene zeigt den heiligen Josef, der als Zimmermann der heiligen Familie ein neues Heim errichtet. Im Hintergrund bauen Engel unter Anleitung des Erzengels Michael das neue Gotteshaus. Der hier dargestellte Turm ist kurz vor der Fertigstellung der Kirche – der Termin für die Einweihung stand bereits fest – eingestürzt.
Im Jahre 1597 konnte die Scheidewand zwischen Chor und Langhaus abgetragen und der Bau der Kirche vollendet werden. Am 26. Juni übergab Herzog Wilhelm V. zusammen mit seinem Sohn und Nachfolger Maximilian I. mittels Stiftungsurkunde die neue Kirche St. Michael an den Jesuitenorden.
Die feierliche Einweihung des Bauwerks fand am 6. Juli 1597 durch den Freisinger Weihbischof Bartholomäus Scholl statt. Zu diesem Anlass erschien die Festschrift TROPHAEA BAVARICA, welche die Jesuiten dem Herzog bei der Weihe feierlich überreichten. Gekrönt wurde der Festtag durch eine musikalische Theateraufführung, die den Sieg des Kirchenpatrons, des Erzengels Michael, über die Mächte der Hölle darstellte und den besonderen Schutz für Bayern erflehte. Sie schloss mit den Segenswünschen für das Land: „Bavaria vigeat, floreat, augescat bonis“ – Bayern möge stark sein, wachsen und gedeihen.
Die finanziellen Mittel Wilhelms V. waren durch den kostspieligen Bau der Kirche und des Kollegs und auch durch den Kölner Krieg fast vollständig aufgezehrt worden und zwangen den Herzog schließlich wenige Monate nach der Einweihung von St. Michael zur Abdankung. Sein Sohn, der spätere Kurfürst Maximilian I., war bereits schrittweise an die Regierungsgeschäfte herangeführt worden und trat die Nachfolge an. Mit seiner Unterschrift unter die Stiftungsurkunde gilt er als der zweite Stifter der Münchner Niederlassung der Jesuiten.
Neben St. Michael und der Alten Akademie hatte Wilhelm V. auch die „Wilhelminische Veste“ und spätere Maxburg errichten lassen. Mit den großen Bauten wollte der Herzog seinen Untertanen Frieden, Sicherheit, Wohlstand, Bildung und Glauben vermitteln. 1626 starb Wilhelm und wurde neben seiner im Jahre 1602 verstorbenen Gemahlin Renata in der Fürstengruft von St. Michael beigesetzt.
Bei der Renovierung zum 100-jährigen Jubiläum wurden nach Plänen des Jesuitenbruders Johannes Hörmann Seitenaltäre, Kanzel und Orgelprospekt neu gestaltet.
Mit der Aufhebung des Jesuitenordens durch Papst Clemens XIV. im Jahre 1773 fielen Kirche und Kolleg an das Haus Wittelsbach. Kurfürst Karl Theodor wies die Kirche 1782 dem Malteserorden zu, der 1808 säkularisiert wurde. Danach war sie bis 1917 königliche Hofkirche, ab 1825 auch Garnisonskirche.
Mit dem Ende des Königreichs ging die Kirche in den Besitz des Freistaates Bayern über, lediglich die Fürstengruft gehört zum Wittelsbacher Ausgleichsfond. Im Jahre 1921 betraute Kardinal Faulhaber den Jesuitenorden mit der Seelsorge. St. Michael war nie eine Pfarrkirche für ein festgelegtes Stadtgebiet, sondern immer eine Kirche für überpfarrliche Aufgaben. Nach den schweren Zerstörungen durch die Fliegerbomben im zweiten Weltkrieg wurde die Kirche wieder aufgebaut und 1953 eingeweiht. Zuletzt wurde sie 1980 bis 1983 zur 400-Jahr-Feier renoviert.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs standen von der ehemals so prächtigen Kirche St. Michael nur noch die Umfassungsmauern, die Seitenkapellen mit ihren Emporen und der Chorbogen. Der Stuck an den Wänden, die Terrakottafiguren sowie die Gewölbe in den Kapellen und im Querschiff waren erhalten geblieben. Das Hochaltarbild hatte man vorsorglich ausgelagert. Die Figur des Erzengels Michael an der Außenfassade war durch eine zu diesem Zweck errichtete Schutzmauer geschützt und überstand die Angriffe unversehrt.
Angesichts der großen Zerstörungen wurden zunächst Zweifel laut, ob die Kirche je wieder aufgebaut werden könne. Dennoch ging man zügig daran, aufzuräumen und die Ruine zu sichern.
Bereits im Jahre 1948 war es soweit, dass das Richtfest für den neuen Dachstuhl gefeiert werden konnte. Am 26. November 1950 wurde das neue Tonnengewölbe eingeweiht. Letzte Reparaturen wurden bis 1983 durchgeführt und der Stuck an den Gewölben wiederhergestellt.
Eine weitreichende Renovierung der Fassade erfolgte in den Jahren von 2009 bis 2013. Es wurden das Mauerwerk saniert, die Figuren restauriert und das historische Farbkonzept wiederhergestellt. Ab 2019 ist die Renovierung der langen Seitenfront an der Ettstraße, der früheren Jesuitengasse, geplant. Damit wird diese großartige Kirche weitgehend wieder in dem Zustand sein wie bei ihrer feierlich begangenen Einweihung im Jahre 1597.
Herzog Wilhelm V. war am Michaelstag, am 29. September 1548, geboren worden und zeit seines Lebens dem Erzengel Michael besonders verbunden. Er erhoffte sich in dem himmlischen Streiter, dessen Name „Wer ist wie Gott?“ bedeutet, nicht nur Unterstützung für den Bau der Michaelskirche, sondern auch einen mächtigen Fürsprecher bei Gott für seine Politik der Gegenreformation.
Die über vier Meter hohe Plastik ist ein Hauptwerk der Münchner Bronzekunst. Sie wurde 1588 von Hubert Gerhard modelliert und von Martin Frey gegossen. Die Gruppe steht an der Fassade an prominenter Stelle zwischen den beiden Portalen der Kirche und zeigt den Sieg des machtvollen Erzengels im Kampf gegen Luzifer, den Führer der abtrünnigen Engel. St. Michael mit weit gebreiteten Flügeln trägt priesterliche Gewänder, der Teufel ist mit Beinen und Hörnern einer Ziege, wie die Satyrn der Antike, als halbes Tier gestaltet. Der lange Kreuzstab, vom Engel energisch geführt, trifft die Bestie am Hals. Das Schöne, Gute und Hohe siegt über das Niedrige, Böse und Hässliche.
Unter der großen Figur des Erzengels Michael an der Fassade der Kirche befindet sich das prächtige, von Carlo Pallago modellierte Wappen des Kirchenstifters und Bauherrn Herzog Wilhelm V. Zwischen Putten und Fruchtgehängen zeigt es die bayerischen Löwen und Rauten und für Wilhelms Mitgliedschaft die Ordenskette der Ritter vom Goldenen Vlies, das am unteren Bildrand als hängendes Widderfell dargestellt ist.
Wilhelm V. hatte im Jahre 1568 in einer glanzvollen Hochzeit Renata von Lothringen geheiratet und residierte zunächst auf Schloss Trausnitz in Landshut. Mit seinem Regierungsantritt im Jahre 1579 siedelte er nach München über und setzte die gegenreformatorische Politik seines Vaters Albrecht V. fort.
Im „Kölner Krieg“ 1583/84 sicherte er seinem Bruder Ernst die Würde eines Erzbischofs und Kurfürsten von Köln und damit die katholische Mehrheit im Kollegium der Kurfürsten, die den Kaiser wählten. Dank seiner kirchlichen Stiftungen erwarb sich Herzog Wilhelm V. den Beinamen „der Fromme.“
Weltliche Herrscher mit religiöser Mission formten den christlichen Weg in Bayern und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. St. Michael zeigt sie eindrucksvoll an der 54 Meter hohen Fassade der Kirche.
Im Bereich des Giebels sind die Skulpturen der ersten drei Landesfürsten, die den christlichen Glauben angenommen haben, dargestellt (auf der Grafik von links): Theodovalda, Otto und Theodo.
Darunter sind die Herrscher Tassilo I., Otto von Wittelsbach, Kaiser Karl der Große, König Christoph III., Herzog Albrecht IV. und König Rupprecht III. aufgereiht.
In der untersten Reihe stehen (ebenfalls von links) Kaiser Maximilian I., Kaiser Ludwig der Bayer, in der Mitte die bayerischen Herzöge Albrecht V. und Herzog Wilhelm V. sowie rechts Kaiser Karl V. und Kaiser Ferdinand I.
DEO OPT. MAX. SAC. IN MEMORIAM D. Michaelis archangeli dedicari curavit guiliemus V. COMES PALATINUS RHENI UTRIUSQUE BAVARIAE DUX PATRONUS ET FUNDATOR – Gott, dem erhabensten und höchsten Herrn, ließ dieses Heiligtum zum Andenken an den hl. Erzengel Michael Wilhelm V., Pfalzgraf bei Rhein und Herzog von Ober- und Niederbayern, als Schutzherr und Stifter weihen.
So steht es in goldenen Lettern geschrieben auf den rotmarmornen Schriftbändern an der Schauseite von St. Michael. Hier hat sich der Bauherr der Kirche bereits ein schriftliches Denkmal gesetzt. Er ist auch als einer der Fürsten dargestellt, ebenso sein Vater Albrecht V., der die Bedeutung eines gebildeten Klerus für sein Herzogtum erkannte.
Die Skulpturen der Fürsten sind nicht einheitlich in Herkunft, Material und Beschaffenheit. Sie bestehen aus unterschiedlichem Kalkgestein oder aus Kunststein, stammen aus mehreren Epochen und sind zum Teil Rekonstruktionen. Sechs Figuren sind noch im Original erhalten und wurden mehrmals restauriert.
Einige wurden beim Bau der Kirche speziell für die Ausstattung der Frontseite von St. Michael neu geschaffen. Andere standen zuvor im Antiquarium der Residenz als Teile der Antikensammlung von Albrecht V. und wurden in ihrem äußeren Erscheinungsbild – bisher römisch-antik – an ihre neue Bestimmung als christliche Herrscher angepasst.
Über allen Herzögen, Königen und Kaisern thront an der Fassade die überlebensgroße Figur des Christus als Erlöser der Welt. Er steht an der Spitze des Giebels unter dem goldenen Kreuz. Als Weltenherrscher hält er in der linken Hand die goldene Kugel als Modell des Kosmos, die rechte erhoben zum Segen für die Stadt, das Land und seine Herrscher.
Die in Kupfer getriebene und vermutlich von Hubert Gerhard stammende Skulptur wurde im Krieg zerstört. Auf der Grundlage eines altes Lichtbildes nach der Renovierung von 1907 wurde die Figur im Jahre 1981 in feiner Linienführung und großer Eleganz als Steinguss rekonstruiert.
Im Drei-Kirchen-Blick aus der Neuhauser Straße sieht man neben St. Michael die ehemalige Klosterkirche der Augustiner-Eremiten und dahinter einen der zwei Türme der spätgotischen Pfarrkirche „Zu Unserer Lieben Frau“ (heute Dom).
Die Augustinerkirche und der Dom sind traditionellerweise dem Sonnenaufgang entgegen gebaut. Die Kirche St. Michael jedoch wurde wegen des begrenzten Platzes mitten in der engen Stadt nach Norden ausgerichtet und wendet ihre prächtige Schauseite der Straße zu.
St. Michael als größte Renaissancekirche nördlich der Alpen wurde prägend für den weiteren Kirchenbau in Süddeutschland.
St. Michael ist keine Pfarrkirche, sondern eine für alle offene Citykirche. Die Jesuiten bieten im Kirchenraum und im Zentrum St. Michael ein breites Angebot von Seelsorge: Einzelgespräche, Beichte, Kurse zur Glaubensvermittlung, Vorträge, Exerzitien, tägliche Eucharistiefeiern und festliche Liturgien. Die Predigt hat ein besonderes Gewicht. Intellektuelle und einfache Menschen, Reiche und weniger Bemittelte sind in St. Michael anzutreffen.
Es ist insbesondere auch die Kirchenmusik mit ihrem vielfältigen Programm mit Orgel, Orchester und verschiedenen Chören, die den Gottesdienstbesuch an Sonn- und Feiertagen in St. Michael zum Erlebnis werden lässt und zahlreiche Menschen anzieht. Über die Jahrhunderte haben namhafte Musiker den hervorragenden Ruf der Michaelsmusik geschaffen.
Hoch, weit und hell stellt sich der Innenraum der Michaelskirche dem Besucher dar. Licht und Schatten modellieren die weite Schale der Wölbung. Die lichte Raumfläche für Langschiff und Chor beträgt 1500 Quadratmeter, die Höhe 28 Meter und die Länge 80 Meter. Das große Tonnengewölbe mit einer Spannweite von 20 Metern und der prächtige weiße Stuck bewirken einen überwältigenden Gesamteindruck. Zwischen starken Wandpfeilern sind gerundete Seitenkapellen integriert; über ihnen strömt aus den großen Fenstern der Emporen Licht in den Raum. Die architekturgeschichtliche Bedeutung dieses großen, säulenlosen Raums, sein Vorbildcharakter für zwei Jahrhunderte, liegt in den drei Jochen des Langhauses, die 1589 vollendet waren.
In der Moritzburg in der historischen Salinen-Stadt Halle an der Saale liegen heute die Kunstschätze Sachsen-Anhalts, Tausende von Artefakten, die alle gar nicht in den Schauräumen des Landeskunstmuseums Platz finden. Münzen seit der Antike, Kunsthandwerk seit dem späten Mittelalter, die Stadtansichten der Brüder Merian, besonders beeindruckende Fotografien, Plastiken verschiedener Epochen, modernes Design – und natürlich bedeutende Gemälde, insbesondere mit dem Schwerpunkt moderner Kunst, gehören zum Bestand des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale).
Den Grundstein der heute weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Sammlung legten zunächst Bürger, die Bilder aus eigenem Besitz stifteten. Die Eröffnung des ersten Museums für Kunst und Kunstgewerbe fand am 29. März 1885 in Räumen des städtischen Eich- und Waageamts am Großen Berlin, einem Platz im Zentrum, statt. Als Kurator fungierte ehrenamtlich der kunstbegeisterte und vermögende Privatmann Franz Otto (1832-1901). 1895 verfügte er schon über einen Fundus von 92 Gemälden und 38 Plastiken.
1908 übernahm der Kunsthistoriker Max Sauerlandt (1880-1934) die Museumsleitung und richtete die Sammlung auf die Kunst der Moderne aus. Seit 1921 werden die Sammlungsbestände der freien und angewandten Kunst gemeinsam in der Moritzburg gezeigt, einer von 1484 an am damaligen Stadtrand erbauten Mischung aus Festung und Schloss der über Halle herrschenden Erzbischöfe von Magdeburg. Sie hatten ihrer Residenz den Namen ihres Schutzpatrons, des Heiligen Mauritius, gegeben.
Die Stadt Halle an einem wichtigen Saale-Übergang profitierte seit der Bronzezeit dank ihrer reichen Solquellen von der Salzgewinnung. Urkundliche Hinweise auf eine Siedlung führen zurück ins Jahr 806, als die Franken hier ein Kastell errichteten. 961 wurde das Stadtrecht verliehen. Halle kam auf Betreiben des Sachsenkaisers Ottos I. im Jahr 968 unter die Hoheit des Erzbistums Magdeburg, trat der Hanse bei (1280), erhielt 1310 städtische Freiheiten und schloss 14 Jahre darauf ein „Ewiges Bündnis“ mit der Schwesterstadt.
Politische Spannungen mit dem nach mehr Unabhängigkeit strebenden Bürgertum der Salzstadt sowie Querelen zwischen den unteren Volksschichten und dem Patriziat forderten die Magdeburger Kirchenfürsten 1478 zum militärischen Eingreifen heraus. Diese wollten mit der Entsendung von Truppen den „Ungehorsam“ der Untertanen unterdrücken und damit auch die Eigenständigkeit der Stadt beenden. Als Zeichen ihres Selbstbewusstseins ließen die Stadtväter den freistehenden 84 Meter hohen sogenannten Roten Turm (1418 bis 1506 erbaut) im Zentrum errichten. Erzbischof Ernst von Wettin (1464-1513) legte schließlich am 25. Mai 1484 an der Nordwestecke der seit 1120 bestehenden mittelalterlichen Stadtmauer den Grundstein zum Festungsbau Moritzburg und demonstrierte damit deutlich den Machtanspruch des Erzbistums. Zur Bezahlung der Baukosten ließ er die Einnahmen der Stadt aus der Salzgewinnung beschlagnahmen.
Seit 1382 residierten die Erzbischöfe von Magdeburg auf der Burg Giebichenstein, ein paar Kilometer nördlich des befestigten Stadtkerns. 1503 wurde die für ihre Zeit innovative Moritzburg als neue Residenz bezogen. Fortan bestimmte zeitgenössische Hofkultur das Leben in Halle. Als Ernsts Nachfolger regierte der verschwenderische Markgraf Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Er hatte an der von ihm mitbegründeten Universität in Frankfurt an der Oder humanistische Wissenschaften studiert, jedoch nicht Theologie. Dennoch wurde er mit 23 Jahren zum Erzbischof geweiht. Nach seinem Einzug 1514 entwickelte sich die Salinen-Stadt zu einem Zentrum der fürstlichen Frührenaissance in Deutschland. Bedeutende Künstler wie Lucas Cranach der Ältere und Albrecht Dürer arbeiteten für den Erzbischöflichen Hof. Der mächtige Kirchenfürst (er war auch Erzbischof von Mainz und erhielt 1518 die Kardinalswürde) initiierte im ganzen Reich den auch für seine eigene Schatulle höchst einträglichen sogenannten Ablasshandel, mit dem sich gläubige Katholiken gegen Geldzahlungen von Sündenstrafen freikaufen konnten. Martin Luther (1483-1546) protestierte als direkter Widersacher Albrechts mit seinen 95 Thesen öffentlich gegen dieses Geschäft mit den Ängsten der Menschen vor den Qualen des Fegefeuers, die die Kirche im Sündenfall in Aussicht stellte und löste damit die Reformation aus.
Der Widerstand der Bürgerschaft in der Salzstadt gegen den höchsten katholischen Würdenträger in Deutschland hatte durch den Protestantismus neue Kraft erhalten. 1541 wurde Albrecht mit allen seinen angesammelten Kunstschätzen aus Halle vertrieben und zog nach Mainz und Aschaffenburg. In seinem umfangreichen Gepäck befand sich auch das „Hallesche Heilthum“, die berühmte Reliquiensammlung. Die Moritzburg blieb zunächst zwar katholische Residenz, wurde aber während der Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Reformation vorübergehend von Truppen des protestantischen Fürstenbundes besetzt. Wenige Jahre später spielte der Katholizismus in der Stadt an der Saale keine Rolle mehr, auf dem Schloss residierten fortan protestantische Administratoren.
Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) erlitt die Moritzburg durch die wechselnden Besetzungen schwere Schäden; ein verheerendes Feuer zerstörte 1637 wichtige Gebäudeteile. Unbeschädigte oder wieder hergestellte Räumlichkeiten der Anlage dienten als Verwaltungssitz, Depots und Münzstätte. 1680 kam Halle unter die Hoheit des Kurfürstentums Brandenburg, das bald im neuen Gesamtstaat Preußen aufging. Dessen Herrscher befahl die Instandsetzung der Maria-Magdalenen-Kapelle aus dem frühen 16. Jahrhundert; sie sollte den hier Zuflucht gefundenen Hugenotten als Gotteshaus dienen.
Mit dem Aufkommen der Romantik gegen Ende des 18. Jahrhunderts erschien den Menschen die Anlage der weitgehend zerstörten, aber von Grün durchwucherten Festung in anderem Licht. Sie wurde in jener Epoche, in der man Kulturlandschaften mit verwunschenen Burgruinen, sanften Tälern und schroffen Höhen idealisierte, als ein Symbol der „Saale-Romantik“ entdeckt. Selbst Preußens Kronprinz Friedrich Wilhelm zeigte sich bei einem Besuch im Jahr 1817 schwärmerisch beeindruckt. Dies trug sicher dazu bei, dass die Behörden 1822 die Moritzburg zum Denkmal erklärten.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden Pläne, die Moritzburg für die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auszubauen. Doch erst Jahrzehnte später begannen aufwendige Renovierungsarbeiten. 1904 waren die ersten Räumlichkeiten fertig. Man hatte an der Stelle des ehemaligen Küchentrakts und der Werkstätten der Anlage einen Nachbau des im Stadtzentrum abgerissenen „Thalhauses“, des Sitzes der Salzgrafen und des Talgerichtes aus dem Jahr 1558, errichtet und zwei der erhaltenen Räumlichkeiten einschließlich der reich verzierten Wandtäfelungen im Original eingebaut. Der Wehrgang, der Torturm und andere Teile des Ensembles wurden bis 1917 fertig gestellt. Die Gemäldesammlung kam erst 1921 aus dem Eich- und Waageamt in die Moritzburg.
Im Zweiten Weltkrieg blieb die Stadt Halle (Salle) von den flächendeckenden Bombardierungen der Alliierten weitestgehend verschont, wodurch große Teile des historischen Stadtzentrums in seiner über Jahrhunderte gewachsenen Struktur erhalten blieben. Auch das Kunstmuseum der Stadt in der Moritzburg wurde nicht zerstört. Im Oktober 1948 wurde es wiedereröffnet und entwickelte sich in den Jahren der ehemaligen DDR zu einem der bedeutenden Kunstmuseen des Landes.
Die ehrgeizigen Erweiterungspläne aus der Zeit des Jahrhundertbeginns sind nie realisiert worden. Sie konnten nach der politischen Wende 1989/90 wieder forciert werden. Zunächst wurden die Flächen in den unteren Gewölben des Westflügels frei; das Fernsehen der DDR, das Kiebitzensteiner-Kabarett und die Universität zogen aus. Dadurch konnte seit den 1990er Jahren der Nordflügel als neuer Ausstellungsbereich genutzt werden. Jedoch erst mit dem 2008 eröffneten Erweiterungsbau der spanischen Architekten Nieto Sobejano erhielt das Museum, seit 1996 Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, die dringend notwendige Vergrößerung seiner Ausstellungsflächen. Seither sind die einzigartigen Sammlungsbestände in einem außergewöhnlichen Miteinander von 500 Jahre alter historischer Bausubstanz und moderner Museumsarchitektur zu erleben.
Horst Heinz Grimm
In einer eher unscheinbaren Klosteranlage aus dem 13.Jahrhundert am Rande des einstigen Stadtzentrums von Rostock liegen Zehntausende Kunstgegenstände und Raritäten vergangener Epochen. Das Kulturhistorische Museum der Stadt, eine der größten Sammlungen in Norddeutschland, zeigt ganz bewusst Regionales. In den Galerien hängen Gemälde aus allen Epochen, darunter viele Werke mecklenburgischer Maler vor allem aus den nahen Künstlerkolonien Ahrenshoop und Schwaan. Dazu kommen Abteilungen für Sakrale Kunst, Numismatik mit etwa 25 000 wertvollen Münzen seit dem 14.Jahrhundert, darunter auch zahlreiche Prägungen der städtischen Münze aus dem Mittelalter. Eine umfassende Sammlung für Kunsthandwerk, eine militärgeschichtliche Kollektion und archäologische Funde runden die Vielfalt ab. Als besonders wertvoll gilt Kunstkennern
der sogenannte Böhmer-Bestand: 613 Gemälde, Aquarelle, Grafiken, Drucke, Zeichnungen und Plastiken von Künstlern wie Erich Heckel, Oskar Kokoschka, Otto Mueller, Karl Schmidt-Rottluff und Christian Rohlfs. Diese Meisterwerke der Moderne aus verschiedenen deutschen Museen wurden von den Nationalsozialisten zusammen mit Tausenden anderen im Jahr 1937 als „rasseuntypisch“ beschlagnahmt. Die Propaganda des Dritten Reichs diskriminierte sie als „entartet“ und gab viele der Vernichtung preis. Freilich waren nicht alle Kunstwerke geächtet.
Vier besonders ausgewählte Kunsthändler hatten den Auftrag, sie im Ausland gegen Devisen zu verkaufen, die in die Parteikassen flossen. Einer der Händler war Bernhard A. Böhmer. Angesichts der vorrückenden sowjetischen Truppen nahm er sich am 3. Mai 1945 das Leben.
Die im Osten nach Kriegsende gegründete „Abteilung zur Erfassung und Pflege von Kunstwerken“ hatte den Auftrag, herrenlose Kunstwerke zu sichern. Sie konfiszierte auf Befehl der sowjetischen Besatzungstruppen im Juli 1947 dann 34 Ölgemälde, 9 Plastiken und rund 1000 Grafiken aus dem Böhmer-Nachlass und gab sie dem Museum der Stadt
Rostock zur Verwahrung. Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden vor allem die aus dem Besitz der Museen in der ehemaligen DDR beschlagnahmten Werke zurückgegeben. Das Kulturhistorische Museum Rostock besitzt heute als Alleinstellungsmerkmal das umfangreichste Konvolut beschlagnahmter „entarteter Kunst“. Unter den 613 Werken befinden sich 17 Gemälde, 6 Plastiken, 23 Aquarelle, 20 Zeichnungen und 537 Druckgrafiken.
Das Kulturhistorische Museum in Rostock ist relativ jung. Mitte des 19. Jahrhunderts konnten kunstinteressierte Bürger der Hafenstadt ihr Streben nach einer eigenen Bildersammlung realisieren. Wo der Adel herrschte, gehörten solche Einrichtungen längst zum kulturellen Standard. In den Residenzstädten ließen die Herrscher schon zur Barockzeit nach dem Vorbild des französischen Hofes sogenannte Curiositätenkabinette einrichten um ihre Weltläufigkeit zu demonstrieren. So entstanden an vielen –
auch nicht so bekannten – Orten sensationelle Sammlungen. Städte, in denen die nüchtern rechnende Kaufmannschaft saß und das Sagen hatte, verzichteten auf solche teuren Prestigeobjekte. Es blieb der Initiative der Bürger überlassen, etwas Nachhaltiges für die Kultur zu tun und die materiellen Zeugen der Vergangenheit zu erhalten.
Genau das passierte auch in der Schifffahrtsmetropole Rostock. 1840 gründeten Kaufleute, Mediziner und Juristen den Rostocker Kunstverein, der 18 Jahre später mit Finanzierung durch eine Bank ein Museumsgebäude kaufte. Die vorhandene Kunstsammlung war allerdings recht unbedeutend. Sie bestand aus lediglich 20 Gemälden und einigen wenigen Gipsabdrucken. In den folgenden Jahren erweiterte der Vorstand den Bestand. So erwarb er Gemälde niederländischer Meister. Umfangreiche Schenkungen unter anderem aus Bürgerkreisen, Handwerksämtern und der städtischen Münze ließen die Bestände schnell anwachsen und wurden in der neu gegründeten „Städtischen Kunstsammlung“ gezeigt. Aus juristischen Gründen wurden dann Ende 1881 beide Institutionen zum „Kunstverein zu Rostock“ zusammengeschlossen. Die Stadt kam für den Unterhalt der Sammlung auf.
Nach und nach wuchs der Bestand an musealen Ausstellungsstücken. Um die für die Stadthistorie wichtigen Stücke kümmerte sich der „Verein für Rostocks Altertümer“, der in den Räumen einer ehemaligen Schankwirtschaft Platz gefunden hatte. Nach langjährigen Verhandlungen erwarb die Stadt ein Gebäude und ließ es für Museumszwecke
umbauen. Am 4. Oktober 1903 eröffnete schließlich das „Kunst- und Altertumsmuseum“.
Knappe Finanzen plagten nach einigen Jahren die Museumsleitung. Die Stadt trug lediglich die Kosten für das Gebäude, alles andere musste privat aufgebracht werden. Kriegskosten, Weltwirtschaftskrise und Inflation beeinflussten den Betrieb. Als neuer Chef brachte der Kunsthistoriker Arnold Gräbke 1932 eine Neuordnung in das
wenig attraktive Heimatmuseum. Ein Jahr später verfügten die Nazis die „Gleichstellung“ im Reich und unterwarfen die Kunst ihrer Ideologie. Sie legten die die Museumspolitik fest und ließen „Undeutsches“ beschlagnahmen. Dazu gehörten Werke jüdischer Künstler und Künstlerinnen sowie der Kunstrichtungen Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Dadaismus, Kubismus, Surrealismus, Fauvismus.
Das Haus hieß fortan „Städtisches Museum“ und konnte in der Kunstentwicklung keine neuen Akzente mehr setzen. Interessante Arbeiten von Künstlern der sogenannten Moderne unter anderem on Rudolf Bartels, Otto Dix und Emil Nolde hatten aus den Ausstellungsräumen entfernt werden müssen. Die Stadt selbst war zum Zentrum der nationalsozialistischen Rüstungsindustrie – U-Boote und Kampfflugzeuge – geworden. Als am Himmel über Rostock die Bombergeschwader der Alliierten immer häufiger
auftauchten, lagerte das Museum seine Sammlungen aus, um sie vor Zerstörungen zu sichern.
Rostock selbst durchlitt seinen Feuersturm an vier Tagen im April 1942. Fast die Hälfte aller Wohnungen in der Innenstadt lagen in Schutt und Asche, als die
Waffen schwiegen. Werften und Hafeneinrichtungen, die Grundlagen der Wirtschaft, existierten nicht mehr. Schwer getroffen waren auch die Jahrhunderte alten Gotteshäuser, Meisterwerke norddeutschen acksteingotik. Die Stadt war eine Trümmerwüste.
Nach dem Krieg öffnete das Museum bereits am 1. Mai 1946 wieder. Das Gebäude war einigermaßen verschont geblieben, die an verschiedene vermeintlich sichere Orte ausgelagerten Kollektionen aber nicht. Bomben und Kriegshandlungen hatten dem Bestand schwere Verluste zugefügt. Dazu kam, dass die bürgerlich orientierten Sammlungen der neuen Politklasse nicht klassengerecht erschienen. Sie wollte die Arbeiter und deren Leben in der sozialistischen Werft- und Hafenstadt stärker gewürdigt wissen. Ein Schifffahrtsmuseum sollte her. Als Räumlichkeiten bestimmte man im Stadtrat den repräsentativen Bau des Kulturhistorischen Museums, das
natürlich 1968 weichen musste.
Ein kleiner Teil der Sammlungen wurde behelfsweise in einem der mittelalterlichen Stadttore untergebracht, während kulturbewusste Stadtplaner einen neuen Standort überlegten. Es bot sich das praktisch ungenutzte Klosterareal zum Heiligen Kreuz an der Stadtmauer an, das zwar stark renovierungsbedürftig aber in der Bausubstanz recht gut erhalten war. 1976 begannen die notwendigsten Arbeiten, vier Jahre später konnten die ersten Räume bezogen werden. Eine weitere Sanierung scheiterte am Geldmangel. Erst nach der politischen Wende wurden die Restaurierung und Konservierung fachgerecht fortgesetzt und nachträgliche baufremde Einbauten beseitigt. Das moderne Museum in altem Gemäuer konnte schließlich 2011 eröffnet werden. Der Bau selbst ist eine Sehenswürdigkeit. Der Klosterhof lädt zu besinnlichen Stunden ein.
Direkt angrenzend liegt der gotische Backsteinbau der alten Klosterkirche „Zum Heiligen Kreuz“. Sie ist seit 1899 as Gotteshaus der Theologischen Fakultät. In dieser einzigen Universitätskirche in Ostdeutschland finden, alten klösterlichen Traditionen der Zisterzienser folgend, wieder sogenannte Stundengebete statt, allerdings stark reduziert. Theologiestudenten tragen sie im Gregorianischen Gesang jeweils am Mittwochabend (Komplet, Nachtgebet) und m Donnerstagmorgen (Morgenmette) vor.
Für ein heimatbetontes Museum ist das acht Jahrhunderte alte ehemalige Zisterzienserkloster zum Heiligen Kreuz ein idealer Platz. Die dänische Königin Margarete stiftete es, so weiß die Legende, als sie im Jahr 1270 vor der Küste aus Seenot gerettet wurde. Sie kam von einer Pilgerfahrt nach Rom, wo ihr der Papst ein Stück von Kreuz Jesu Christi geschenkt hatte. Es gab dem Kloster den Namen. Historisch verbürgt ist, dass die Herrscherin sich oft in Rostock aufhielt und 1282 hier starb.
Rostock war seit dem 12. Jahrhundert einer der Außenposten christlicher Missionierung in dem von heidnischen Slawen besiedelten Osten. Bei der Ankunft Margaretes gab es schon drei Klöster. Seit 1218 besaß die Niederlassung an der Warnow das Stadtrecht. Es begann der Aufstieg zur bedeutendsten Stadt Mecklenburgs, in der die Kaufmannschaft und nicht ein Statthalter des Herzogs das Sagen hatte. Zum Zeichen ihrer Unabhängigkeit sicherten sie Rostock mit einer sieben Meter hohen Wehrmauer. Der Kauf des Fischerdorfes Warnemünde erlaubte den direkten Zugang zur zwölf Kilometer entfernten Ostsee, eine wichtige Voraussetzung für den florierenden Handel im Rahmen der Hanse. Münzrecht und volle Gerichtsbarkeit rundeten die Privilegien ab. 1419 wurde die Universität gegründet, die erste in Norddeutschland. Das gesellschaftliche Klima allerdings litt unter Spannungen. Ein von mächtigen Patrizierfamilien beherrschter Stadtrat stieß auf den Widerstand der Stände, vor allem der Handwerker. Es kam mehrfach zu innerstädtischen Auseinandersetzungen.
Das mit Zuwendungen gut betuchte Kloster zum Heiligen Kreuz erfreute sich so regen Zulaufs, dass die Priorin, die Äbtissin, die Zahl der Nonnen stark begrenzte. 1354 gab es noch 60 Klosterfrauen, knapp eineinhalb Jahrhunderte später nur noch 40. Als Kaplan Joachim Slüter die Reformation nach Rostock brachte und eifrig verbreitete, stieß er zunächst auf entschiedenen Widerstand im konservativen katholischen Klerus, aber auch im Rat und an der Universität. 1531 wurde aber verfügt, die Gottesdienste nach dem neuen Ritus zu halten. Die Zisterzienserinnen lehnten einen lutherischen Prediger ab. Erst 1584 wurde aus dem katholischen Kloster ein evangelisches Frauenstift für unverheiratete Töchter Rostocker Familien und mecklenburgische Adeliger. Beim Eintritt war eine „Mitgift“ fällig. An der Spitze stand eine Domina. Die Nonnenzellen wurden zu Wohnungen ausgebaut. 1605 lebten 20 Stiftsdamen friedlich in ihrem historischen Refugium.
Der Dreißigjährige Krieg der Katholischen Liga des Kaisers gegen die protestantischen Staaten Deutschlands, Dänemark und Schweden (1618 –1648) verschonte auch Rostock und seine Handelsbeziehungen nicht. Die reiche Stadt kaufte sich anfangs von einer Besetzung durch kaiserliche Truppen mit enorm hohen Zahlungen frei. 1631 begann mit der Landung des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf in Mecklenburg die schwedische Besatzung. Als die Mächte den Krieg beendeten, lag Rostock wirtschaftlich am Boden, die
Stadtkassen waren leer. Der mächtige Städtebund Hanse befand sich in Auflösung. Auch verschlechterte sich die Situation für das Stift. Es hatte nur noch neun Bewohnerinnen. Aber der Betrieb lief weiter. Der schwerste Schlag traf die stolze Hafen- und Handelsstadt im August 1677, als ein Feuer zwei Tage wütete und ein Drittel des Häuserbestandes und damit das gewachsene mittelalterliche Stadtbild vernichtete, das in anderen Hansestädten einigermaßen erhalten blieb. Die Bevölkerung sank um fast zwei Drittel auf 5000 Einwohner. Der Große Nordische Krieg (1700 –1721) und der Siebenjährige Krieg (1756 –1763) schienen der Stadt jede Hoffnung auf schnelle Erholung zu nehmen. In den ersten Jahren des 19.Jahrhunderts fiel Napoleons Armee auf ihrem Feldzug gegen Russland in Rostock ein und blieb vorübergehend als Besatzungsmacht, die sich von der Bevölkerung versorgen ließ.
Als die fremden Krieger verschwunden waren, ging es langsam aufwärts. Der Seehandel gewann an Bedeutung, Manufakturen arbeiteten wieder. 1870 registrierten die Behörden mit 378 Einheiten die größte Segelschiffflotte auf der Ostsee. Eisenbahnlinien verbanden den Hafen mit dem Hinterland. In der Stadt herrschte rege Bautätigkeit. Das fast vergessene mittelalterliche Kloster mit seinem Grundbesitz weckte Begehrlichkeiten, es sollte staatliches Eigentum werden. Doch erst die Verfassung des Jahres 1920 erlaubte die entschädigungslose Enteignung und Auflösung. Die verbliebenen Damen erhielten Wohnrecht auf Lebenszeit – die letzte von ihnen starb 1981.
Im Lauf der Jahrhunderte war der ursprüngliche Klosterbau durch Ein- und Umbauten erheblich verändert worden. So fielen die Rekonstruktionen aufwändig aus. Bestes Beispiel ist die originale Wiederherstellung des Refektoriums aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wo die Nonnen zweimal täglich zum Essen zusammentrafen. Mit der Umwandlung in ein evangelisches Damenstift wurden in den großen Raum Wohnungen eingebaut. Heute besteht wieder der bauliche Zustand wie im Mittelalter. In dem zweischiffigen gotischen Saal ist die Sammlung Sakrale Kunst untergebracht.
Drei Flügel der Klosteranlage sind zweistöckig, eine Seite blieb ebenerdig. Die Architekten planten das Museum nach modernsten Gesichtspunkten der Raumnutzung. Trotz der Menge der Artefakte wirken die Präsentationen großzügig. Und doch kann nur ein Teil des mehrere Zehntausend Stücke umfassenden Bestandes gezeigt werden. Allein beim Kunsthandwerk zählten die Kuratoren etwa 35 000 Gegenstände. Rostocks Geschichte hat eine reiche Hinterlassenschaft.
Horst Heinz Grimm
Der Sammelleidenschaft des mitteldeutschen Adels verdankt die Nachwelt heute eine überaus reiche kulturelle Hinterlassenschaft. In Thüringen ist dieses große Erbe besonders weit verstreut. Auf dem Gebiet dieses Bundeslandes wetteiferten zur Zeit des Barocks bis zu zwei Dutzend Duodezherrscher erfolgreich in ihrer Prachtentfaltung. Sie bauten repräsentative Schlösser und legten wertvolle Kunstsammlungen an. Eines ihrer Vorbilder war die Hofhaltung von Versailles. Auch die Kleinstadt Arnstadt an der Gera, etwa 20 Kilometer südlich von Erfurt, profitierte von der Prunksucht ihrer Landesherren. Das Schlossmuseum zeigt eine Sammlung mit drei herausragenden Schwerpunkten: Die international einmalige Puppenwelt „Mon plaisir“, eine Darstellung der einzelnen Bereiche des höfischen Lebens in einer fürstlichen Residenzstadt der Barockzeit mit fast 400 Figuren, eine Kollektion von etwa 1000 chinesischen und japanischen Porzellanen vom Ende des 16. bis zum frühen 18.?Jahrhundert sowie elf wertvolle Tapisserien aus flämischen Manufakturen. Alle Artefakte sind Hinterlassenschaften prachtliebender Adeliger, die hier ihre Schlösser unterhielten.
Das Städtchen Arnstadt blickt auf eine lange Geschichte zurück. Der schon im Jahr 704 urkundlich erwähnte und 1266 mit Stadtrechten privilegierte Ort gehörte zum Besitz der Grafen von Schwarzburg, einem der ältesten und bedeutendsten Adelsgeschlechter der Region. König Otto I. hielt hier 954 einen Reichstag ab, auf dem aufständische Herzöge von Schwaben und Lothringen sich ihm, dem Herrscher des Ostfrankenreiches, unterwarfen. Geschichtliche Bedeutung erlangte der befestigte mittelalterliche Handelsplatz allerdings erst im 16. Jahrhundert, als der als Feldherr und Diplomat in kaiserlichen Diensten stehende Graf Günther XLI. (1529–1583), genannt „Bellicosus“ – „der Streitbare“ –, hier seine Residenz aufschlug und das prächtige Wasserschloss Neideck errichten ließ. Die Stadt mit ihren ziegelgedeckten Häusern lag in einer fruchtbaren Landschaft. Der Reformator Martin Luther verglich sie mit einer „Schüssel voll gesottener Krebse mit Petersilie garniert“.
Um die verwirrende Geschichte der Schwarzburger Adelsdynastie einigermaßen zu verstehen, muss man einen kurzen Blick auf den Stammbaum werfen. Graf Günther XL., genannt „der Reiche“ (1499–1552), herrschte über die beiden geografisch getrennten Landesteile: Die Oberherrschaft mit den Städten Rudolstadt und Arnstadt sowie die Unterherrschaft mit Sondershausen und Frankenhausen. Nach seinem Tod wurden die vier Söhne Regenten, wobei Günther XLI. (1529–1583) und Albrecht (1537–1605) zunächst die Vormundschaft über die jüngeren Brüder übernahmen. 1571 folgte die Aufteilung der Territorien: Günther XLI. erhielt Arnstadt, Johann Günther (1532–1586) Sondershausen, Albrecht VII. Rudolstadt und Wilhelm (1534–1598) das Gebiet Frankenhausen.
Graf Günther XLI. erwarb sich als Lutheraner am streng katholischen Hofe so hohes Ansehen, dass Kaiser Karl V. ihn 1556 mit einem Vermögen von 10?000 Rheinischen Goldgulden belohnte. Das entsprach – nach heutigen Maßstäben – einer Kaufkraft von mehreren Millionen Euro. Mit diesem Geld ließ der Schwarzburger auf den Ruinen einer früheren Burganlage in Arnstadt sein vierflügeliges Renaissanceschloss Neideck errichten, wo dann 1560 die spektakuläre und pompöse Hochzeit mit Katharina von Nassau-Dillenburg, einer Schwester des Prinzen von Oranien, stattfand. Für die schmückende Ausstattung des Schlosses bestellte er bei flämischen Teppichwirkern etwa vier Dutzend großflächige Tapisserien vor allem mit szenischen Darstellungen aus dem Alten und Neuen Testament. Dazu kamen weltweit einmalige Wandbehänge mit Motiven von Jagdgesellschaften, deren Figuren Affengesichter zeigen. Von diesem gesamten Schatz blieben insgesamt nur elf Textilien erhalten, die heute zum wertvollen musealen Bestand in Arnstadt gehören.
Die mehrtägige Hochzeit auf Schloss Neideck sorgte an den europäischen Höfen für Gesprächsstoff. Als Gäste waren 64 „fürstliche Personen“ und 84 Ritter nach Arnstadt gekommen, 3500 Pferde mussten versorgt werden. Mundschenke stellten mehrere Hektoliter Bier und Wein bereit, die Küche verarbeitete unter anderem 21?000 Eier, 1000 Hammel, 100 Ochsen, drei Tonnen Hering und eine Tonne Honig.
Günther XLI. hielt es nicht lange auf seinem Schloss. Bald zog er, in Diensten des dänischen Königs Friedrich III., in den Krieg gegen die Schweden, dann bekämpfte er für Kaiser Maximilian II. in Ungarn das Heer des Osmanischen Sultans. Katharina begleitete ihn häufig auf Feldzügen und folgte ihm auch in die Niederlande, wo er in höchsten Habsburger Diensten stand. Er starb schließlich 1583 in Antwerpen.
Solange Günther XLI. in Arnstadt residierte, solange hatte die alte Grafschaft auch einen klangvollen Namen in Hofkreisen, zählte der Schwarzburger mit dem furchteinflößenden Beinamen „Bellicosus“ doch zu den einflussreichsten Persönlichkeiten im Heiligen Römischen Reich. Es fiel kaum ins Gewicht, dass der Krieger aus Arnstadt protestantischen Glaubens war. Nach dem Tod des „Streitbaren“ schwand der Einfluss des Hauses Schwarzburg auf dem europäischen Parkett.
Erst nach mehr als 100 Jahren machten die Landesherren wieder von sich reden. Günther II. (1653–1716) trat mit seinem älterem Bruder Christian Wilhelm (1647–1721) nach dem Tod des Vaters dessen Nachfolge an. Sie regierten bis 1681 gemeinsam, teilten dann aber den Besitz in eine Arnstädter und eine Sondershäuser Linie. Kaiser Leopold??I. erhob 1697 beide Schwarzburger Grafen zu Reichsfürsten. Für Schwarzburg-Rudolstadt lehnte Graf Albert Anton (1641–1710) zunächst ab; als Gründe nennen Historiker seine tiefe pietistische Haltung. Erst sein Sohn Ludwig Friedrich I. (1667–1718) führte den Fürstentitel von 1711 an und pflegte fortan, wie es sein Stand verlangte, prächtiges höfisches Zeremoniell.
Im Arnstädter Schloss Neideck residierte Anton Günther II. Er bereicherte mit hohem finanziellen Aufwand das kulturelle Leben der Stadt und sammelte Kunst. Unter anderem unterhielt er ein eigenes Hoftheater und beschäftigte fast zwei Dutzend Musiker in Hofdiensten. In der neu errichteten Kirche Arnstadts ließ er 1703 die von Johann Friedrich Wender gebaute Orgel von dem gerade 18 Jahre alten Musiker Johann Sebastian Bach prüfen und verpflichtete diesen als Organisten. Der Komponist blieb bis 1707. Der im Original erhaltene Spieltisch des Instruments steht heute als besonderes Schaustück im Rahmen einer ständigen Bachausstellung im Schlossmuseum.
Eine Leidenschaft des Landesherrn war die Numismatik. Er besaß mehrere Tausend Münzen, darunter fast 3000 goldene Geldstücke und mehr als 6000 Brakteaten. Als seinem Fürstentum eine kräftige Verschuldung drohte, verkaufte er die Sammlung an Herzog Friedrich??II. von Sachsen-Gotha. Sie gehört heute zum bedeutenden Münzkabinett auf Schloss Friedenstein in Gotha.
Anton Günther II. hatte 1684 Auguste Dorothea, eine Tochter des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel geheiratet. Sie teilte seine Kunstbegeisterung und Sammlerleidenschaft – und trug unbekümmert zu den leeren Kassen des Fürstentums bei. Einen von ihrem Mann geschenkten Landsitz in der Nähe von Arnstadt ließ sie zum Lustschloss Augustenburg mit den entsprechenden Nebengebäuden ausbauen. Die prachtliebende und verschwenderische Adelige borgte Geld, wo es nur ging. Selbst beim Ursulinenkloster in Erfurt wurde sie 1707 erfolgreich vorstellig. Ein paar Jahre später konvertierte die Protestantin zum Katholizismus, in der Kirche der Augustenburg wurden katholische Gottesdienste gefeiert. Bei den Ursulinen fand sie auch ihre letzte Ruhestätte.
Nach dem Tod des kinderlos gebliebenen Fürsten Anton Günther II. war Arnstadt vertraglich an Christian Wilhelm gefallen, der das Schloss Neideck aufgab und weiter in Sondershausen residierte. Auguste Dorothea zog sich – angeblich umgeben von einem fast 100 Personen zählenden Hofstaat – auf ihr Schloss Augustenburg zurück und frönte dort 35 Jahre – bis zu ihrem Tod – der Sammelleidenschaft. Porzellane, Gemälde, Schmuck und andere kunsthandwerkliche Erzeugnisse interessierten sie.
Ihre Lebensaufgabe aber wurde „Mon plaisir“ – „Mein Vergnügen“, wie sie ihre Puppenstadt nannte. Fürstin Auguste Dorothea, die sich „Herzogin zur Augustenburg“ nannte, verpflichtete für ihr Projekt auch ihren Hofstaat. Die Damen mussten die aufwändige Kleidung nähen, Handwerker die Einrichtungsgegenstände basteln. Zwei Mönche aus dem nahen Erfurt dürften als „Wachspoussierer“ (Modellierer) das Formen von zumindest einigen Köpfen übernommen haben.
Auguste Dorothea wollte ein möglichst lebensnahes Abbild einer thüringischen Residenzstadt ihrer Zeit schaffen. So entstanden in Vitrinen 82 Szenenbilder von den Handwerks-berufen ebenso wie vom Alltag bei Hof. 391 handgearbeitete Figuren beleben sie. Detailverliebt ergänzen passende Miniaturgegenstände wie Möbel, Geschirr, Bücher und Werkzeuge die Figurendarstellungen. Die kleinen Keramikobjekte kamen aus der von ihr 1715 gegründeten Fayencefabrik Dorotheenthal unweit der Augustenburg. Die räumliche Ausstattung der Szenenbilder lässt die Kunstrichtung Régence erkennen, eine frühe Form des Rokoko, die zwischen 1710 und 1730 – der Entstehungszeit der Puppenstadt – aus Frankreich auf andere Höfe überschwappte.
Auch wenn jetzt Sondershausen die Residenzstadt des Fürstentums war und Neideck mit der Zeit dem Verfall preisgegeben war, ohne ein repräsentatives Gebäude konnte die wichtige Stadt des Schwarzburger Herrschaftsbereichs nicht bleiben. Günther I. (1678–1740) verfügte deshalb 1729 den Bau der Nebenresidenz „Neues Palais“ in Sichtweite des bisherigen Schlosses, von dem der 65 Meter hohe Bergfried erhalten geblieben ist. 1734 konnte die Einweihung gefeiert werden.
Die Dreiflügelanlage war als doppeltes Wohnpalais angelegt. Sie bot repräsentative Wohnungen (Appartements genannt) für die Fürstin im nördlichen und den Fürsten im südlichen Trakt des Corps de logis. Dazu kamen die üblichen Repräsentationsräume. Der für seine Zeit moderne Barockbau, auch als Witwensitz für Ehefrau Elisabeth Albertine geborene Prinzessin von Anhalt-Bernburg (1693–1774) geplant, fiel äußerlich schlichter aus als vergleichbare Paläste jener Zeit, war in seiner Ausstattung durchaus exklusiv. So gab es beispielsweise ein fest eingebautes Bad. Die Fürstin verzichtete aber auch hier nicht auf einen repräsentativen Hofstaat. Die Diener trugen selbstverständlich Livree. Und zum Personal gehörten, wie auch in anderen europäischen Residenzen, als „Prestigeobjekte und Statussymbole“ ein „Kammertürke“, drei „Hofmohren“ und eine „Zwergen-Familie“.
Fürst Günther I. sammelte Kunst wie seine Vorfahren. Besonders interessierte er sich für Porzellan, dem Trend seiner Zeit folgend vor allem für Stücke aus China und Japan. Er beauftragte den Hofbildhauer Heinrich Christoph Meil damit, im südlichen Seitenflügel ein Porzellan- und Spiegelkabinett einzurichten. Dieser gestaltete auf reich verzierten, grün tapezierten Wänden insgesamt 763 blattähnliche Konsolen für die ostasiatischen Exponate. Die Sammlung blieb bis heute, mit wenigen Verlusten, geschlossen erhalten. Den überwiegenden Teil bilden chinesische Porzellane, die schönsten Stücke stammen aus der Kangxi-Periode (1662–1722).
Außerdem sind in der übrigen Ausstellung Meißner Porzellane aus der ersten Hälfte des 18.?Jahrhunderts zu sehen, die auch zu Zeiten des Fürsten Günther I. in die Sammlung kamen. Darunter ist ein fünfteiliger Vasensatz mit dem Zeichen „AR“ (Augustus Rex) markiert. Dies wies das Porzellan als persönlich für den König gefertigt aus und dürfte ein Geschenk gewesen sein. Zwischen August dem Starken und dem
Schwarzburger bestand ein sehr gutes Verhältnis.
Auch Böttgersteinzeug, das frühe Porzellan aus der Werkstatt in Meißen, wird gezeigt. Als exklusives Einzelstück dieses Materials gilt die Büste der römischen Göttin Proserpina nach Giovanni Lorenzo Berninis Marmorgruppe „Der Raub der Proserpina“. Vermutlich modellierte der Dresdener Bildhauer Benjamin Thomae (1681–1751) die Figur.
An das Porzellankabinett mit seinen etwa 1000 asiatischen Exponaten schließt das Bilderkabinett, dessen Wände ebenfalls grün verkleidet sind. Knapp fünf Dutzend Gemälde sind ausgestellt, doch der einst reiche, sehenswerte Bestand ist verschwunden.
Mit dem Tod der Fürstin Auguste Dorothea, die als Witwe 1751 hoch verschuldet starb, schien die Zukunft der fast schon in Vergessenheit geratenen Puppenstadt „Mon plaisir“ ungewiss. Trotz eines relativ geringen Preises fand sich kein Käufer. 1765 wurden die Miniaturen zusammen mit anderen unveräußerlichen Kuriositäten aus der Augustenburg im Waisenhaus von Arnstadt deponiert und konnte gegen Eintritt besichtigt werden. Fürstin Marie von Schwarzburg-Sondershausen (1845–1930) bemerkte schließlich die unzureichende Unterbringung und fehlende Pflege der Sammlung und ließ sie 1881 in das „Neue Palais“ in Arnstadt bringen. Schon ein paar Monate später kamen die Exponate in das Schwarzburger Jagdschloss Gehren. 1930 wurde sie erneut nach Arnstadt verlegt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Mit der Abdankung der Monarchien in Deutschland 1918 wurde Arnstadt als Residenzstadt bedeutungslos. Das Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen wurde zunächst ein Freistaat und ging dann 1920 im Land Thüringen auf. Das in ein Museum umgewandelte „Neuen Palais“ blieb zwangsläufig im Schatten der größeren Sammlungen in Weimar, Erfurt und Gotha. Der deutsche „Baedecker“ erwähnte damals nur knapp die Porzellansammlung im Schlossmuseum.
Während des Zweiten Weltkrieges waren die Exponate an einen sicheren Ort ausgelagert worden, 1947 schon eröffnete das Museum mit bescheidener Ausstattung wieder, auch „Mon plaisir“ war zu sehen. Zur Zeit der sozialistischen DDR gab es kaum Geld für die Pflege einer „feudalistischen“ Einrichtung wie eines Fürstenpalais. Entsprechend war auch der Zustand des Museums in Arnstadt bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Lediglich für die wertvollen Tapisserien lief seit 1988 ein Programm zur Restaurierung. 1992 schließlich wurden begrenzte Mittel für andere Renovierungen freigegeben. Und so konnte schließlich 2014 nach langen Jahren der Festsaal wieder so präsentiert werden, wie er 1881 ausgesehen hat. Im wieder hergestellten ehemaligen Marstall brachte die Stadt eine Sammlung historischer Feuerlöschspritzen unter, ein Lapidarium zeigt unter anderem Architekturfragmente aus der Ruine Neideck.
In Arnstadt begann im Jahr 1703 der junge Musiker Johann Sebastian Bach seine berufliche Laufbahn, komponierte erste Werke und spielte als festangestellter Organist für das Fürstenpaar und die Gemeinde in der Neuen Kirche. Das Gotteshaus trägt heute seinen Namen. Wie eng Bach und seine umfangreiche Verwandtschaft mit der Residenzstadt verbunden waren, dokumentiert eine Dauerausstellung im Schlossmuseum.
Mehr als zwei Jahrzehnte nach Beginn sind die kostenträchtigen Restaurierungsarbeiten noch längst nicht beendet. Für den Südflügel gelten sie als weitgehend abgeschlossen, jetzt konzentrieren sich die Konservatoren auf den nördlichen Teil, dem für die Fürstin vorgesehenen Wohntrakt. Dort stießen sie auf ein Kleinod, das kaum in einem anderen Schloss zu finden ist: Ein „Schmelzzimmer“. Der Name geht auf die Verwendung von Glas (Schmelz) in der Dekoration zurück.
Die Wände dieses Raumes verkleidet bis zur Höhe von drei Metern roter Seidenstoff mit aufwändigem Zierrat, der zum Teil bereits freigelegt ist. Aufgenähte längliche Glasperlen, Flitter und Pailletten vermitteln das Bild eines Porzellankabinettes. Links und rechts flankieren imitierte marmorierte Säulen mit Blumenranken die Darstellung. Der Raum diente wahrscheinlich als fürstliches Audienzzimmer und könnte nach der völligen Restaurierung ein weiterer Besuchermagnet sein. „Schmelzzimmer“ sind in Residenzen selten. So gibt es beispielsweise im Schloss der Markgrafen von Baden-Baden in Rastatt einen mit diesem Kunsthandwerk komplett ausgestatteten Saal, das „Florentinische Zimmer“, sonst finden sich in europäischen Palästen nur einzelne Fragmente.
Horst Heinz Grimm
Die eher unscheinbare ländliche Kleinstadt Schwaan südlich von Rostock gilt unter Kunstliebhabern als Geheimtipp. In der im Inneren zum modernen Museum umgebauten ehemaligen Mühle, nach der mittelalterlichen Kirche das wahrscheinlich älteste Gebäude des Ortes, hängen Gemälde von Malern aus einer fast vergessenen Künstlerkolonie. Franz Bunke, Rudolf Bartels, Peter Paul Draewing und Alfred Heimsohn zählten zu den herausragenden Vertretern der Gruppe, die sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hier fest etablierte und in Kunstkreisen einen Namen hatte. Bis der Erste Weltkrieg die Unbeschwertheit der Künstler störte; den endgültigen Zerfall leiteten schließlich die dreißiger Jahre mit ihrer Wirtschaftskriese und politischen Entwicklung ein.
In der Landschaft um Schwaan, dort wo das Flüsschen Beke in die Warnow mündet, finden Maler unzählige Motive. Herausragende Zeugen der Vergangenheit, etwa ein Schloss, gehören allerdings nicht dazu, die Natur steht Modell. Nach der Historie hat hier im 12. Jahrhundert Heinrich der Löwe bei der Christianisierung des Ostens eine Slawensiedlung bezwungen. Spuren dieser frühen Geschichte blieben nicht erhalten und zur Stadtgründung gibt es auch keine Urkunde. Die Backsteinkirche St. Paulus, eine der ältesten in Norddeutschland, steht mit ihrem markanten 45 Meter hohen Turm schon seit etwa 1232 und dient auch heute noch Landschaftsmalern als beliebtes Motiv. Sie ist übrigens eines der wenigen Gebäude – neben der Wassermühle an der Beke -, das beim verheerenden Brand von 1765 nicht den Flammen zum Opfer fiel, die die Stadt vernichteten.
Außerhalb der Ballungsgebiete entstanden im 19. Jahrhundert in vielen Gegenden Europas Dutzende Künstlerkolonien. Es dürften zwischen 130 und 180 gewesen sein. Maler suchten nach einem freien, einfachen und naturnahen Leben, das zumal auch billiger war als in der Enge der wachsenden Städte, die von dem aufkommenden Industriezeitalter zunehmend geprägt wurden. Zum anderen setzte sich die Idee durch, landschaftliche Motive direkt am Ort auf die Leinwand zu bringen oder Aquarelle im Freien zu malen. Die traditionelle Arbeitsweise der Künstler sah bisher so aus, dass sie im Sommer in der Natur ihre Skizzen machten und diese dann im Winter in ihren Arbeitsräumen zu Gemälden komponierten. Man sprach in Kunstkreisen von zwei Jahreszeiten: Studiensommer und Atelierwinter.
Die Initialzündung zu dieser neuen Entwicklung in der Malerei kam aus Frankreich. Das Dorf Barbizon im Wald von Fontainebleau, südlich von Paris, war das Zentrum. Schon seit etwa 1830 reisten Künstler hierher, um direkt, im natürlichen Licht und Umfeld, zu arbeiten. Sie wichen damit bewusst von den Vorgaben der mächtigen Pariser Akademie École des Beaux-Arts ab, deren Professoren den Akademismus pflegten. Diesem lag eine strenge Einhaltung der ästhetischen und formalen technischen Regeln zugrunde. Die Kunstrichtungen des Neoklassizismus, des Realismus und der Romantik wurden gepflegt. Der akademische Maler dieser Zeit arbeitete im Atelier vor der Leinwand – wobei die Themen und sogar die Bildformate häufig von den Lehrkräften vorgegeben wurden.
Dagegen rebellierten die an der Akademie klassisch ausgebildeten jungen Künstler. Sie zogen mit Staffelei, Leinwand, Pinseln und Farben ins Freie und malten dort, wo sie ein Motiv sahen. Eine entscheidende Erfindung ihres amerikanischen Kollegen John G. Rand, der in London als Porträtist
arbeitete, ermöglichte bereits 1841 die Arbeit an Gemälden auch unterwegs. Die Ölfarben konnten in quetschbaren Tuben aus dünnem Zinkblech mitgenommen werden. Pierre-Auguste Renoir meinte später, ohne Farbtuben wäre der Impressionismus nicht entstanden. Das neue Verkehrsmittel Eisenbahn brachte die Künstler schneller in die Natur. In Paris stiegen sie in den Zug nach Barbizon, die Tickets der 4. Klasse waren auch für ihre schmalen Budgets erschwinglich. Schwaan war seit Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls bequem auf Schienen erreichbar.
Schwerpunkt der Arbeiten in der Künstlerkolonie im Wald von Fontainebleau war die von den Akademien gar nicht geschätzte, ja sogar verpönte Landschaftsmalerei. Theodore Rousseau (1812-1867), der Gründer der sogenannten Schule von Barbizon, prägte diesen Stil der schlichten, stimmungsvollen Landschaft, der „paysage intime“ (vertraute Landschaft). Es war keine Schule im eigentlichen Sinn, sondern ein eher lockerer Freundeskreis ähnlicher Kunstauffassung. Jean Baptiste Camille Corot (1796-1875), Jean-Francois Millet (1814-1875) und zahlreiche andere Maler fanden sich in dem kleinen Ort ein. Die Arbeitsweise der Künstler bekam einen Namen: Pleinair – abgeleitet vom Französischen „en plein air“ (unter freiem Himmel). Solche Werke akzeptierten die Akademien nicht als vollwertig, sie stellten sie in den Rang von Skizzen respektive Studien. Das Ideal der Professoren war nach wie vor die im Atelier komponierte Landschaft, vorzugsweise im flächigen Großformat. Im Gegensatz dazu fielen die in der Natur gemalten Bilder deutlich kleiner aus, wie in Schwaan anschaulich demonstriert.
Die „Barbizonniers“ gewannen unter jungen Malern zunehmend Einfluss. Nicht nur in Frankreich: sondern auch in anderen europäischen Staaten – vor allem in Deutschland – folgte man ihrem Stil. Zur öffentlichen Diskussion über die neue Kunstrichtung kam es 1874, als etwa 30 französische Maler in Paris ihre erste eigene große Ausstellung organisierten. Zu dieser Gruppe gehörten Claude Monet, Paul Cézanne, Pierre-Auguste Renoir, Camille Pissarro und Edgar Degas, um nur einige zu nennen. Der offizielle Pariser Salon, die 1667 von König Ludwig XIV. gegründete und die für den offiziellen französischen Kunstgeschmack tonangebende Kunstausstellung, lehnte es zu dieser Zeit nämlich konsequent ab, Bilder der „Freiluftkünstler“ zu zeigen. Und wer nicht im „Salon de Paris“ ausstellen durfte, dem verweigerte der Kunstmarkt die Anerkennung. Konservative Kunstkritiker sparten nicht mit Ablehnung und Häme. Einer von ihnen, Louis Leroy (1812-1885), nannte Claude Monet geringschätzig einen oberflächlichen „Impressionisten“ und gab damit dieser neuen Kunstrichtung unbewusst den Namen. Trotz allen Aufsehens brachte die Ausstellung den Malern keinen finanziellen Erfolg. Auch in den weiteren sieben Präsentationen der Impressionisten in Paris bis 1886 blieben die Verkäufe weit hinter den Erwartungen zurück.
Im deutschsprachigen Raum verbreitete sich der neue Stil, allerdings unter stärkerer Beibehaltung der zeichnerischen Elemente und einem eher zurückhaltenden Kolorit. Außerdem brauchte der Impressionismus fast zwei Jahrzehnte, um Fuß zu fassen. Im Wilhelminischen Kaiserreich mit seiner starren konservativen Kunstausrichtung, bestanden zudem die politischen Ressentiments gegen den „Erbfeind“, die mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 einen Höhepunkt erreicht hatten.
Doch nicht alle Künstler folgten der von Berlin vorgegebenen „patriotischen“ Kunstauffassung. Der Maler Max Liebermann (1847-1935) beispielsweise, der als einer der bedeutendsten deutschen Impressionisten gilt, arbeitete 1874 vorübergehend in Barizon, um sich mit seinen französischen Kollegen auszutauschen und dann wieder auf die Kulturszene seiner Heimat zurückzukehren. Gotthardt Kuehl (1850-1913) lebte elf Jahre in Paris, bevor er 1895 als Professor an der Akademie in Dresden die neue Kunstrichtung einführte.
Als konsequenter Impressionist trat der Deutsche Theodor Hagen (1842-1919) in Erscheinung. Er übernahm 1871 das Lehramt Landschaftsmalerei an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar, war von 1877 bis 1881 ihr Direktor und lehrte hier bis zu seinem Tode. Beeinflusst von Barzion verließ
dieses Institut die akademische Tradition idealisierter Kompositionen. Die fortan hier gepflegte realistische Landschafts- und Genremalerei ging als sogenannte Weimarer Malerschule in die Kunstgeschichte ein. Hagen vollzog in seiner eigenen Kunst um 1891/92 den Schritt zur Primamalerei und erhob damit die direkt „vor der Natur“ – so der Fachbegriff – gefertigte „Studie“ zum eigenständigen Bild. Der Umgang mit Farben, Licht und Schatten revolutionierte die bis dahin geschätzten Darstellungsformen und Motive in der Malkunst. In Weimar wurden die Vorgaben der französischen Freilichtmalerei (Pleinarismus) und des Impressionismus aufgegriffen und umgesetzt. Deshalb wählte der Franzose Claude Monet (1849-1926) die Residenzstadt auch 1890 zum ersten Ausstellungsort seiner Arbeiten in Deutschland.
Diese fortschrittliche Akademie sollte zum künstlerischen Orientierungspunkt der Malerkolonie Schwaan werden. Franz Bunke, ein Sohn der Kleinstadt, begann 1878 sein Studium in Weimar und war von 1882 bis 1884 Meisterschüler Hagens. Im Jahr 1886 erhielt der Schwaaner ein Lehrarmt für Landschaftsmalerei. Mit Kollegen und Schülern kam Bunke von 1880 an regelmäßig in seine Heimatstadt; die lokale Bevölkerung nahm dach zeitgenössischen Berichten das lustige Malervölkchen freundlich auf. Im Gefolge befanden sich viele Schülerinnen, da die Einrichtung in Weimar als eines der wenigen Bildungsinstitute seiner Zeit auch Frauen unterrichtete.
Nach und nach festigte Schwaan seinen Ruf als Künstlerkolonie. Hier an Beke und Warnow hatten bereits um 1860 bei Besuchen mecklenburgische Maler ihre Motive gefunden. Das Gründungsjahr der Künstlerkolonie lässt sich jedoch nicht konkret festlegen. Dafür zeichnete sie sich durch eine Besonderheit aus. In dem norddeutschen Städtchen prägten vor allem heimische Maler das Schaffen. Außer Bunke waren dies Peter Paul Draewing und Rudolf Bartels. Später ließ sich der Hamburger Alfred Heinsohn fest in Schwaan nieder. Alle vier Kinder gehörten zum Schülerkreis Hagens.
Der Erste Weltkrieg zerstörte die Idylle der Malerfreunde. Draewing, Bartels sowie Heinsohn mussten zum Militär. Die politische Neuordnung in Deutschland und die wirtschaftliche Lage nahmen unbeschwerter fruchtbarer Arbeit die Grundlage. Bunke, seit 1927 Ehrenbürger der Stadt, kam weiterhin bis zu seinem Tode nach Schwaan. Gelegentlich reiste auch noch Bartels an. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geriet die Künstlerkolonie in Vergessenheit. Zu Zeiten der DDR gab es für sie keine Renaissance.
Erst nach der Wende erinnerte man sich in Schwaan der nicht unbedeutenden künstlerischen Vergangenheit und ihrer Maler. Doch es fehlten die entsprechenden Werke aus dem umfangreichen Schaffen der einst hier tätigen Künstler. Gemälde befanden sich breit gestreut in unbekanntem Privatbesitz, an den Aufbau einer eigenen Sammlung wagte man – mit einem Fundus von gerade einem Dutzend Bildern – vorerst noch nicht zu denken.
Da kam 1992 das Staatliche Museum Schwerin zur Hilfe. Lisa Jürß, damals amtierenden Direktorin und Leitern der Gemäldesammlung und selbst Malerin, veranstaltete eine Ausstellung über die Künstlerkolonie Schwaan. Die Arbeiten von Bunke, Bartels, Draewing, Heinsohn und anderen fanden wieder Aufmerksamkeit. Die Stadt erhielt jetzt von Sammlern und Kunsthändlern Kaufangebote und konnte ihren kleinen Grundbestand bei schmalem Budget schleppend erweitern. Aus den zuständigen Landesbehörden kam wohlwollende Unterstützung, private Sponsoren meldeten sich ebenfalls.
Inzwischen wuchs auf europäischer Ebene das Interesse für die Künstlerkolonien. Unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission wurde die EuroArt, die Vereinigung der europäischen Künstlerkolonien, 1994 in Brüssel gegründet. Mit diesem Netzwerk aus Künstlerdörfern sollte das Bewusstsein für dieses gemeinsame europäische Kulturerbe geweckt und gefördert werden. Im Jahr 2000 wurde Schwaan in diese Organisation aufgenommen. 2001 erinnerte das Germanische Nationalmuseum Nürnberg mit seiner breit gestalteten Ausstellung unter dem Titel „Künstlerkolonien in Europa. Im Zeichen der Ebene und des Himmels“ auch an die mecklenburgische Kleinstadt Schwaan und verschaffte ihr auf diese Weise überregionale Aufmerksamkeit. Nun war die Zeit reif für ein eigenes Museum, das offizielle Stellen ausdrücklich befürworteten und förderten.
Zunächst musste ein entsprechender Platz dafür gefunden werden. Die Wahl fiel auf ein kommerziell ungenutztes Gebäude im Zentrum – die alte Wassermühle, die die Feuerwalze von 1765 überstanden hatte. In seiner heutigen Form steht der Fachwerkbau seit Ende des 18. Jahrhunderts. Die Mühlenanlage nutzte bis 1955 noch die Wasserkraft der Beke, dann ersetzte ein Dieselmotor den Antrieb. Mühlenreich und Mühlengraben wurden bald zugeschüttet, das mächtige Wasserrad abgebaut. Der noch aus dem Mauerwerk ragende abgesägte Wellenstumpf lässt die Größe erahnen. Bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts lief hier der Betrieb, danach diente der historische Bau als Lager für Ausgedientes.
Nach nur einem Jahr Umbauzeit konnte die Stadtverwaltung in Schwaan am 26. Oktober 2002 ihr neues Kunstmuseum öffnen, das ebenso unter der Bezeichnung Kunstmühle bekannt wurde. Drei Etagen bieten eine Gesamtausstellungsfläche von 600 Quadratmetern, wobei die mächtigen Holzbalken der Fachwerkkonstruktion – sorgfältig restauriert – architektonisch erhalten blieben. Sie bieten für die Präsentation der Landschaftsbilder ein harmonisches Ambiente. Selbstverständlich verfügt das moderne Museum über Depot- und Atelierräume. Alle Schauräume sind barrierefrei erreichbar.
Gerade 43 Gemälde befanden sich bei der Eröffnung im Besitz des Museums, das auf Leihgaben aus anderen Häusern und privater Sammler angewiesen war. Über Stiftungen, Nachlässe, Schenkungen oder Ankäufe konnte seither der Bestand auf mehr als 130 Gemälde, etwa 100 Zeichnungen und Aquarelle sowie Grafiken und Skulpturen erweitert werden. Ein Förderverein bemüht sich, mit Veranstaltungen und Stipendien einer neuen Künstlerkolonie Impulse zu geben und unterstützt zeitgenössische Künstler. Das Kunstmuseum Schwaan steht auch in sehr engem Kontakt mit den anderen bedeutenden Künstlerkolonien in Deutschland und Nachbarländern. Museumsleiter Heiko Brunner ist seit 2014 einer der drei Vizepräsidenten von EuroArt, nachdem er zuvor jahrelang im Vorstand mitgearbeitet hatte.
Längst gehören Sonderausstellungen im Jahr zum Alltag des Museums. Zuletzt stellt die 1875 entstandene Künstlerkolonie Dachau mehrere Monate in Schwaan aus. Zu sehen waren Arbeiten unter anderem von Carl Spitzweg, Max Liebermann, Otto Strützel, Adolf Hölzel. Im Gegenzug ist das Kunstmuseum mit Werken aus seinem Fundus zu Gast bei anderen Mitgliedern der EuroArt. Eine besonders enge Zusammenarbeit besteht mit den norddeutschen Künstlerkolonien Ahrenshoop und Hiddensee an der Ostsee, dem Märkischen Malerdorf Ferch am Schwielowsee bei Potsdam sowie Worpswede im niedersächsischen Teufelsmoor.
Horst Hans Grimm
Hoch erheben sich vier Kirchentürme über der reizvollen Landschaft unweit von der Mündung der Unstrut in die Saale. Sie markieren eines der bedeutendsten Kulturdenkmäler des europäischen Mittelalters: den mächtige Dom St. Peter und St. Paul in der Kreisstadt Naumburg (Sachsen-Anhalt). Auf etwa 120 Quadratmetern malte Erich Heckel in Sekkotechnik seine „Lebensstufen“. Der seinerzeit knapp 40 Jahre alte Künstler schuf dieses gewaltig Lebenspanorama zwischen 1922 und 1924 in einem kleinen, gewölbten Raum im Erdgeschoss des Gebäudes. Es stellt die Welt des Mannes der Welt der Frau gegenüber, ist jedoch vor allem als Reminiszenz an den Freundesbund um den Dichter Stefan George zu deuten.
Nach einer viereinhalb Jahre langen Umbau- und Sanierungsphase zeigt das Kunstmuseum der Landeshauptstadt Thüringens seit Mitte 2010 wieder ausgesuchte Werke seiner Bestände sowie zahlreiche private Leihgaben. In der Gemäldegalerie sind unter anderem Joseph Anton Koch, Caspar David Friedrich, Carl Blechen und Anselm Feuerbach mit Landschaftsbildern des 19. Jahrhunderts vertreten. Aus der Weimarer Malerschule stammen Werke von Karl Buchholz, Paul Baum und Christian Rohlfs. Carl Blechen, Carl Spitzweg, Carl Schuch, Max Slevogt, Lovis Corinth, Max Beckmann und Heinrich Nauen stehen für die Kunstrichtungen von der romantisch inspirierten deutschen Pleinairmalerei über den Impressionismus bis zum Expressionismus. Die Kunst von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart ist ebenfalls breit vertreten.
Eine Abteilung zeigt bedeutende Werke mittelalterlicher Kunst aus Erfurt und Thüringen von internationalem Rang wie die vier Tafeln des so genannten Augustineraltars aus der Mitte des 14. Jahrhunderts oder die nur wenig später entstandene „Madonna mit den springenden Hirschen“. Dürer-Schüler Hans Baldung Grien ist mit seinem Tafelbild „Erschaffung der Tiere und des ersten Menschenpaares“ vertreten; er schuf es in der ersten Hälfte des 16 Jahrhunderts. Skulpturen sowie Druckgrafiken und Handzeichnungen aus fünf Jahrhunderten gehören ebenfalls zum Bestand des Angermuseums. Die kunsthandwerkliche Abteilung besitzt die weltweit umfangreichste Sammlung der farbenprächtigen Thüringer Fayencen des 18. Jahrhunderts. Dazukommen Porzellane aus regionalen und überregionalen Manufakturen, Steinzeuge aus unterschiedlichen Regionen wie Creußen, Raeren, Siegburg, Westerwald etc., Gläser vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, Gold- und Silberschmiedearbeiten, Zinn, Möbel und Musikinstrumente. Herausragend ist ferner die internationale Kollektion zeitgenössischer Schmuckkunst.
Zum Angermuseum gehören zwei Außenstellen: die Wohn- und Wirkstätte der Textilkünstlerin Margaretha Reichardt in Erfurt-Bischleben und die im Zentrum von Erfurt gelegene Barfüßerkirche mit Werken aus der Sammlung sakraler Kunst. Der Bettelorden der Franziskaner errichtete im 13. Jahrhundert ein Gotteshaus, das nach wenigen Jahrzehnten einem Stadtbrand zum Opfer fiel, bald danach jedoch wieder aufgebaut wurde. Das Langhaus dieses Baus wurde im November 1944 bei einem Luftangriff alliierter Bomber stark beschädigt und besteht bis heute nur als Ruine. Doch im Chor begeistern wertvolle mittelalterliche Farbfenster des Vorgängerbaus mit Szenen aus dem Leben des Heiligen Franz von Assisi und aus der Passion Christi, entstanden zwischen 1230 und 1240, die Besucher. Die Glasarbeiten waren rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden. Gezeigt wird unter anderen Artefakten auch ein Flügelaltar aus der abgerissenen Bartholomäuskirche, datiert auf das Jahr 1445.
Im Gegensatz zu den mitteldeutschen Residenzstädten, in denen fürstliche Kunstkabinette längst die Kultur bereicherten, fehlte der handwerklich und kaufmännisch geprägten Stadt Erfurt bis ins späte 19. Jahrhundert eine vergleichbare Sammlung. Dabei konnte sie auf eine stolze Vergangenheit verweisen, die vom Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg andauerte. „Diese Stadt liegt in einer gar guten Flur und fruchtbarem Erdboden, der trägt ein Kraut Waydt genannt, zur Färbung der Tücher dienlich. Diese Stadt hat an Wohnungen, Häusern und Höfen er Bürger und an Gezierden der Klöster und Kirchen wunderparlich zugenommen“, notierte der Chronist Hartmann Schedel (1440–1514) Ende des 15. Jahrhunderts in seiner „Weltchronik“. Das befestigte Erfurt am Schnittpunkt der großen Handelsstraße „via regia“ von Santiago de Compostella nach Kiew und einer wichtigen Nord-Süd-Verbindung über Nürnberg und Augsburg nach Italien gehörte mit fast 20 000 Einwohnern zu den wenigen deutschen Großstädten dieser Zeit.
Die mittelalterlichen Kirchenbauten, besonders das einzigartige gotische Ensemble von Dom und Severi-Kirche, erinnern an die einstige Bedeutung der Stadt. 1379 bereits hatte der avignonesische Papst Clemens VII. dem Antrag des Rates der Stadt auf Gründung eines studium generale – zunächst ohne Theologie – in Erfurt zugestimmt. Wegen des Umschwenkens der Stadt und des Mainzer Stadtherrn zum römischen Papst Urban VI. war dessen Urkunde jedoch rechtlich wertlos geworden, so dass die Erfurter Universität erst 1392 als fünfte Universität im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ihren Lehrbetrieb aufnehmen konnte – nach Prag (1348), Wien (1365), Heidelberg (1386) und Köln (1388). Bekanntester Student war übrigens Martin Luther, der 1505 an dieser Alma Mater seinen Magister machte und dann ins Erfurter Augustinerkloster eintrat. Sieben Jahre später zog er nach Wittenberg, wo er seine die christliche Religion erneuernden und schließlich auch umwälzenden Thesen verkündete. Eine Pestepidemie gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als der Seuche mehr als 60 Prozent der Bevölkerung zum Opfer fielen, verursachte einen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang, von dem sich die Stadt lange nicht erholte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sorgte die Industrialisierung jedoch für neuen Aufschwung, die Bürger gelangten erneut zu Wohlstand. In ihren Kreisen mehrten sich die Stimmen, die von der Stadtverwaltung den Aufbau kultureller Einrichtungen, vergleichbar mit anderen Großstädten, verlangten.
In Erfurt lebte damals der Historienmaler Maler Eduard von Hagen (1834–1909), Spross einer angesehenen Möbelfabrikantenfamilie. Er war der Neffe des in der Stadt geborenen Friedrich Nehrlich (1807–1878), den es wie viele Künstler seiner Zeit früh nach Italien gezogen hatte, wo er sich fortan Nerly nannte und seinen italianisierten Vornamen Federico benutzte. Von Hagen machte sich vier Jahre nach dessen Tod als Wortführer der interessierten Honoratioren für die Gründung einer städtischen Sammlung stark, der man im Magistrat zunächst skeptisch bis widerstrebend gegenüberstand. Von Hagen aber hatte einen Trumpf in der Hand. Auf seine Initiative hin bot der in Rom lebende Nerly-Sohn der Erfurter Bürgerschaft an, der Stadt mehr als 100 Bilder sowie Zeichnungen und einige Druckgraphiken aus dem Schaffen des Vaters zu schenken. Die Bedingung lautete: Einrichtung einer öffentlichen Sammlung.
Die Stadtväter Erfurts nahmen die Schenkung an. Schließlich war der Spätromantiker und Pleinairmaler Nerly in der Kunstwelt kein Unbekannter. Seine Veduten Venedigs waren gefragt. Allein das Motiv der „Piazzetta bei Mondschein“ malte er drei Dutzend Mal. Das früheste dieser Bilder (1838) hängt im Angermuseum, das den weltweit größten Bestand von Werken Nerlys aus allen Schaffensperioden besitzt.
Nerly kam als Sohn eines Postsekretärs am 24. November 1807 zur Welt und wurde nach dem frühen Tod des Vaters von einem Onkel in Hamburg großgezogen. Als dieser die Begabung des ihm Anvertrauten erkannte, schickte er ihn zu befreundeten Künstlern in die Lehre. Besonders der Radierer, Kunsthistoriker und Schriftsteller Carl Friedrich Freiherr von Rumohr (1785–1843) kümmerte sich als Mäzen intensiv um die Ausbildung des angehenden Malers, der allerdings niemals eine Kunstakademie besuchte. Mit Rumohr reiste Nerly 1829 nach Italien; von Rom aus erkundete der junge Maler die Umgebung, von Subiaco und Olevano über Terracina bis nach Sizilien. Als es 1835 an die Heimreise gehen sollte, zögerte Nerly und nahm Umwege, kam 1837 in Venedig an, gab dort der Adoptivtochter des Marchese Maruzzi Unterricht im Zeichnen und heiratete sie bald. Der Künstler blieb bis zu seinem Tod am 21. Oktober 1878 in der Lagunenstadt, wo er ein Atelier unterhielt.
Als Galerie stellte Erfurt ein Stockwerk des ehemaligen kurmainzischen Pack- und Waagehofs am Anger zur Verfügung. Der Prachtbau wurde auf Veranlassung des kurmainzischen Statthalters Reichsgraf Philipp Wilhelm von Boineburg zwischen 1705 und 1712 errichtet und diente als repräsentative Ausweichresidenz, bis acht Jahre später die eigentliche Statthalterei am Hirschgarten renoviert und entsprechend ausgebaut worden war. Später zogen der Zoll und das Münzamt in den Pack- und Waagehof ein. Erfurt gehörte – mit nur einer Unterbrechung – jahrhundertelang zur Herrschaft des mächtigen Erzbischofs und Kurfürsten von Mainz. Im Vorgriff auf den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 kam die Stadt im Jahr 1802 unter
die Herrschaft des preußischen Königs. Die Preußen eröffneten in dem Bau am Anger ein Steueramt.
Am 27. Juni 1886 fand die Eröffnung der Gemäldegalerie statt, die von Hagen organisiert hatte. Zahlreiche Werke italienischer, holländischer und deutscher Maler aus dem Bestand der Berliner Museen ergänzten als Leihgaben die Nerly-Sammlung. Statt der ursprünglichen Bezeichnung Städtisches Museum bürgerte sich in den 1930er Jahren der Name Angermuseum ein; das Gebäude liegt am zentralen Straßenzug gleichen Namens. Fünf Jahre nach der Eröffnung übernahm – neben seinem Amt als Stadtarchivdirektor – der Historiker Alfred Overmann (1866–1946) die Leitung des Hauses und begann mit dem Ausbau des Bestands. Er konzentrierte sich unter anderem auf die mittelalterliche Kunst der Region.
Der Kunsthistoriker Edwin Redslob (1884–1973) wurde 1912 als erster hauptamtlicher Direktor für die stark gewachsene Sammlung berufen, die sich mittlerweile auf fünf Gebäude aufteilte. Ihm schwebte ein zentraler Museumsneubau außerhalb des direkten Stadtzentrums vor. Der belgische Architekt Henry van de Velde, zu dieser Zeit Leiter der Großherzoglichen Kunstgewerbeschule in Weimar, entwarf 1913 in seinem Auftrag ein Modell, das deutliche Merkmale des damals in Mode stehenden Jugendstils aufwies. Der Erste Weltkrieg machte diese Pläne jedoch zu Makulatur. Der Kunstbestand der Stadt verblieb im Packhof. Die Sammlung bekam unter Redslob eine neue Anordnung und ihr Profil. Der Direktor folgte dem von seinem Vorgänger eingeschlagenen Kurs des „Heimatcharakters“ mit städtischer und regionaler Kunst, konzentrierte sich aber bei den Gemälden auf deutsche Malerei des 18. bis 20. Jahrhunderts mit den Schwerpunkten Landschaft, Stillleben und Porträt. Er pflegte enge Beziehungen und persönliche Freundschaften zu Künstlern der Moderne und förderte ihre Arbeiten.
Das Museum geriet jedoch schlagartig in den Mittelpunkt heftiger Auseinandersetzungen, als es expressionistische Kunst ausstellte. Die „Mitteldeutsche Zeitung“ befürchtete Ende 1919 ein Abgleiten zur „Hochburg semitisch-moskowitischer Unkultur und Kulturverneinung, … von der alles Geschichtliche und Kulturelle mit Keulen erschlagen wird.“ Redslob ließ sich nicht beirren und folgte seinem Konzept. Er baute die Sammlungen mittelalterlicher Kunst und des Kunstgewerbes aus; ordnete und erweiterte auch den Bestand an Grafik, deren Kern natürlich die Werke aus dem Nachlass Nerlys bildeten. Der Kunsthistoriker leitete das Haus bis 1919, folgte dann einer Berufung nach Stuttgart als Generaldirektor der württembergischen Museen, verließ Stuttgart jedoch nach kurzer Zeit wieder. Die junge Regierung der Weimarer Republik bestellte den ausgewiesenen Fachmann zum Reichskunstwart und übertrug ihm die Verantwortung für den staatlichen Kunstbereich – eine Funktion, die er bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ausübte. Die neuen Kulturverantwortlichen beförderten ihn alsbald in den Ruhestand. Das Amt übernahm Propagandaminister Joseph Goebbels höchstpersönlich.
Redslobs Nachfolger in Erfurt, der Kunsthistoriker Walter Kaesbach (1879–1961), blieb bei der vom Vorgänger gegebenen Orientierung. Er richtete eine Sammlung des deutschen Expressionismus ein, mit der er schnell internationalen Ruf erwarb. Dabei erhielt er großzügige Unterstützung von dem jüdischen Sammler und Mäzen Alfred Hess (1879–1931), einem vom Expressionismus begeisterten Erfurter Schuhfabrikanten, in dessen Haus zahlreiche zeitgenössische Künstler zu Gast waren. Der Unternehmer stellte viele seiner Erwerbungen dem Angermuseum als Leihgaben zur Verfügung und ermöglichte den Ankauf zahlreicher Bilder und Skulpturen unter anderem von Lyonel Feininger, Emil Nolde, Ernst Barlach, Gerhard Marcks und Max Pechstein. Er übernahm auch die Kosten für Heckels einzigartige Wandmalereien. Thekla Hess führte die Leihgaben wieder in die Familie zurück, als das Unternehmen nach der Weltwirtschaftskrise und dem Tod ihres Mannes im Dezember 1931 in Schwierigkeiten geriet. Sie musste Bilder verkaufen und verließ 1939 Deutschland endgültig. Die umfangreiche Privatsammlung deutscher Expressionisten wurde weltweit zerstreut.
Der politischen Rechten missfielen alle modernisierenden Kunstströmungen, die Ablehnung gipfelte in übler Hetze. Auch das Bürgertum fühlte sich durch die „linke“ Kunst in seiner kulturellen Hegemonie gefährdet. Von „jüdischbolschewistischer Unkultur“ war auf einmal die Rede, auf Kaesbachs Villa gab es Anschläge. Hess wurde Ziel antisemitischer Parolen. 1924 verließ der Direktor Erfurt und leitete fortan die renommierte Kunstakademie in Düsseldorf.Auch er wurde 1933 zwangspensioniert. Der 30 Jahre alte Herbert Kunze (1895–1975) übernahm 1925 die Nachfolge im Angermuseum, nachdem der Kunsthistoriker Walter Passarge (1898–1958) die einjährige Vakanz überbrückt hatte.
Unbeirrt vom zunehmend feindlicher werdenden Klima pflegte Kunze die Gegenwartskunst, ohne jedoch die traditionellen Sammlungen zu vernachlässigen. Im Gegenteil. Er erweiterte den Bestand im Bereich mittelalterliche Kunst und Kunsthandwerk, den er um Thüringer Fayencen bereicherte. Der Direktor unterhielt enge Beziehungen zu den Künstlern der Moderne. Auf seine Einladung kam Lyonel Feininger zu einem Arbeitsaufenthalt ins Angermuseum und wohnte auch hier. Ernst Barlach, Karl Schmitt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner sowie viele andere bedeutende Expressionisten zählten zum Freundeskreis. Dies nahm die Stadtverwaltung, in der seit der Machtübernahme der NSDAP die Nationalsozialisten das Sagen hatten, nicht hin. Im Juni 1937 musste Kunze gehen und erhielt sogar Hausverbot.
Im Spätsommer 1937 holten die Nationalsozialisten zu ihrem verheerenden Schlag gegen die ihnen verhasste „Entartete Kunst“ aus, worunter sie alle Werke verstanden, die ihrem ideologisch geprägten Kunstverständnis und Schönheitsideal widersprachen. Dazu zählten sie in der Malerei den Expressionismus ebenso wie Dadaismus, Surrealismus, Kubismus oder Fauvismus. Aus mehr als 100 deutschen Museen beschlagnahmten sie etwa 20000 Arbeiten, 1400 Künstler fielen in Ungnade, verloren Anstellungen an Akademien, erhielten Arbeits- und Ausstellungsverbot. Viele, vor allem Juden, litten unter der Verfolgung. Ihre Arbeiten wurden ins Ausland verkauft oder vernichtet. Am 27. August erreichten Beauftragte der staatlichen Aktion auch das Angermuseum und beschlagnahmten dort mehr als 1000 bedeutende Arbeiten der Moderne, vor allem des Expressionismus.
Für das Haus war es ein Verlust von unschätzbarem Wert. Seine Direktoren hatten mit viel Engagement eine Sammlung aufgebaut, die in Kunstkreisen international Anerkennung fand. Von diesem Raubzug erholte sich das Angermuseum nicht. Erfurt verlor seinen Ruf als ein Zentrum der Moderne in Deutschland. Der Galerie fehlten fortan bedeutende Arbeiten der künstlerischen Moderne wie Lyonel Feiningers Ölgemälde „Barfüßerkirche Erfurt II“, das er 1926 während seines Aufenthalts in der Stadt gemalt hatte. Es hängt heute im Walker Art Center, Minneapolis, ähnlich weit entfernt wie Paul Klees „Baumkultur“ (1927), das im Guggenheim Museum, New York, bewahrt wird.
Die kommissarische Leitung in dieser politisch schweren Zeit übernahm Kunzes Mitarbeiterin und spätere Ehefrau Magdalena Rudolph, die durch eine beherzte Aktion die bedeutenden Wandmalereien im Heckelraum vor der Zerstörung rettete: Sie verschloss die Zugangstür und stellte einen spätgotischen Verkündigungsengel davor. Der Zweite Weltkrieg zwang bald zur Auslagerung der meisten Exponate. So hielt sich der Schaden in Grenzen, als ein Nebengebäude des Angermuseums von einer Bombe getroffen wurde.
1945 kam Kunze als Direktor zurück. Er kümmerte sich um den Wiederaufbau und die Rückführung der Bestände. Schon nach einem Jahr konnte er die Gemäldegalerie eröffnen, der nach der Plünderung durch die Nazis allerdings die Moderne fehlte. Während der Kriegswirren war auch manches Werk aus dem klassischen Bestand verschwunden (so ein Skizzenbuch Nerlys). Rückkäufe von nicht zerstörten Arbeiten der „Entarteten Kunst“ scheiterten an den politischen Vorgaben und finanziellen Rahmenbedingungen. Über einen langen Zeitraum waren Kunstrichtungen wie der Expressionismus im sozialistischen Staat nicht gefragt. So blieben Neuerwerbungen hauptsächlich auf die zeitgenössische Kunst der DDR beschränkt. 1963 übernahm der regimetreue Karl Römpler die Direktion, ihm folgte 1977 Rüdiger Helmbold. 1968 fasste man alle städtischen Museen in Erfurt organisatorisch unter einer zentralen Leitung zusammen. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurden die einzelnen Häuser zunächst wieder selbständig, bevor eine Strukturreform in der Stadtverwaltung alle künstlerisch orientierten Einrichtungen der Stadt –Angermuseum, Kunsthalle, Schloss Molsdorf und Forum Konkrete Kunst – als „Kunstmuseen der Stadt Erfurt“ erneut unter eine einheitliche Leitung stellte, die im November 2011 Prof. Dr. Kai Uwe Schierz übernahm .
Umfangreiche Umbau- und Sanierungsmaßnahmen erwiesen sich als dringend notwendig, die – mit Unterbrechungen – bis zum Sommer 2010 andauerten. Seither präsentiert sich das unter der Leitung von Direktor Dr. Wolfram Morath-Vogel neu eingerichtete Kunstmuseum der Thüringer Landeshauptstadt in einer Dichte und differenzierten Fülle wie zu keinem früheren Zeitpunkt seiner Geschichte. Einen wesentlichen Anteil daran haben zahlreiche Neuerwerbungen der Nachwendezeit sowie Schenkungen und langfristige private Leihgaben. Eine solche Überlassung bereichert seit 2004 den Bestand des Museums, als Ilse Franke nach dem Tod ihres Mannes mit der „Grafiksammlung Rudolf und Ilse Franke“ dem Angermuseum die mit ca. 14 000 Werken wohl größte privat in der DDR zusammengetragene Kollektion von Druckgrafiken des 20. Jahrhunderts schenkte. Darunter befinden sich auch Arbeiten von Künstlern, die sich den Vorgaben des „sozialistischen Realismus“ verweigerten, wie Gerhard Altenbourg (1926–1989).
Horst Heinz Grimm
In einem palastartigen, repräsentativen Barockbau im Zentrum von Erfurt finden Kunstliebhaber ein Juwel der Moderne. Der so genannte Heckelraum im Angermuseum ist das wichtigste und einzige erhaltene großflächige Wandbild des deutschen Expressionismus in der Nachfolge der 1913 aufgelösten Künstlergruppe „Die Brücke“, das den Fanatismus der Nationalsozialisten gegen Arbeiten der künstlerischen Moderne überstanden hat. Die Architektur und besonders die Ausstattung des Westchors aus der Mitte des 13. Jahrhunderts machen die einstige Kathedrale mit Dreikönigskapelle,Klausurgebäude, Kreuzgang, Marienkirche und Kurienhäusern weltweit so einzigartig, dass eine Bewerbung um die Aufnahme als UNESCO-Welterbe läuft. An dem Gotteshaus baute ein bis heute namentlich unbekannter Steinbildhauer und Dombaumeister, der seine Ausbildung in den Bauhütten der französischen Kathedralen bekommen hatte. In der Stadt an Saale und Unstrut hinterließ er sein Hauptwerk und wurde so als Naumburger Meister bekannt.
Die überlieferte Geschichte Naumburgs und seines Domes beginnt um das Jahr 1000, als Ekkehard I., Markgraf von Meißen († 1002), an der Ostgrenze des Reiches der Ottonenkaiser im Mündungsbereich der Unstrut eine neue Burg, die „Nuwenburg“, errichten ließ. Der Platz für den neuen Stammsitz war geschickt gewählt, trafen hierdoch zwei wichtige Handelswege aufeinander. Die Landesherren erreichten, dass Kaiser Konrad II. mit Billigung des Papstes 1028 das Zentrum des Bistums – es amtierte Bischof Hildeward (1003–1030) – vom etwa 30 Kilometer entfernten Zeitz nach Naumburg verlegte. Die beiden Ekkehardiner brachten gute Gründe für ihr Betreiben vor: Zeitz lag als Stützpunkt zur Christianisierung der slawischen Bevölkerung direkt an der Grenze des Reiches und war dadurch Ziel mehrerer verheerender Überfälle der Sorben gewesen. Außerdem ließen sie der Kirche eine umfangreiche Schenkung
zukommen.
Zeitz, das bereits 968 von Otto dem Großen zur Slawenmissionierung gegründet worden war, musste sich fortan widerwillig mit einem Kollegiatsstift begnügen, beanspruchte aber weiter die Rechte des Domkapitels, die jetzt in Naumburg lagen. Die Kontrahenten lieferten sich in dieser Frage schärfste, nicht selten böse Auseinandersetzungen, zu denen auch Urkundenfälschungen gehörten. Etwas Beruhigung trat erst gut zwei Jahrhunderte später ein. Der auf Betreiben des Stauferkönigs Philipp von Schwaben eingesetzte, im Reich hoch angesehene Bischof Engelhard (1206–1242) ließ seine Domherren in Rom eine Kopie des päpstlichen Dokuments beschaffen, mit dem JohannesXIX. einst die Verlegung verfügt hatte. 1230 bestätigte außerdem ein Kompromiss die übergeordnete Stellung des Naumburger Kathedralkapitels gegenüber dem Kollegiatsstift in Zeitz. 1285 verlegte Bischof Bruno von Langenbogen († 1304) schließlich die Residenz zurück nach Zeitz, ohne dass sich dadurch der Kathedralstatus von Naumburg veränderte. Hier bestanden weiter die Bürgerstadt und anschließend der mit Mauern abgegrenzte Kirchenbezirk des Bischofs, die so genannte Domfreiheit. Sie besaß eigene Gerichtsbarkeit, Steuerhoheit und eine Verwaltung durch ein Domkapitel mit einem Dekan an der Spitze. Diese territoriale Trennung bestand in Naumburg bis 1832.
Das Domkapitel hatte sich im Mittelalter nach und nach von einer einfachen, dem Bischof unterstellten Gemeinschaft zu einer eigenständigen mächtigen Institution entwickelt. Oberster Würdenträger der Kanoniker war der Probst, der aber häufig auch mit weltlichen Angelegenheiten befasst war. Dann übernahm der an zweiter Stelle der Hierarchie stehende Dekan die Spitzenposition im Kapitel. Die Domherren besaßen in der Domfreiheit ihre eigenen Herrenhöfe, die Kurien.
Mit der Erhebung der Saalestadt zum Bischofssitz 1028 begannen die Arbeiten zum Bau der ersten Kathedrale, einer dreischiffigen romanischen Kreuzbasilika mit östlichem Querhaus, wie Archäologen bei Ausgrabungen feststellten. Aus Dokumenten geht hervor, dass sie vor 1044 geweiht wurde. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte gab es mehrfach Um- und Neubauten; die etwa um 1160/70 eingebaute Hallenkrypta blieb bis heute erhalten. In der Amtszeit von Bischof Engelhard begann um 1210 der schrittweise Neubau des spätromanischen Domes mit Ostchorund Ostquerschiff sowie dem Ausbau der Seitenschiffe und einer dreiteiligen Krypta. Am 29. Juni 1242 fand die feierliche Weihe statt – ohne Bischof Engelhard. Er war im April gestorben. Die Kathedrale war größer als ihre Vorgängerin, ihr fehlte jedoch noch der architektonisch und künstlerisch bedeutende Westchor.
Während Baumeister im Herrschaftsbereich des Kaisers Kirchen im Stil der Romanik errichteten, setzte sich im Westen Europas – ausgehend vom Nordfrankreich – bereits seit fast 100 Jahren die Gotik mit ihren charakteristischen Spitzrippengewölben und großflächigen, kunstvoll in Farben gestalteten Fenstern durch. Auch deutsche Kirchenfürsten forderten solche Gotteshäuser für ihre Machtbereiche. Die Erzbischöfe von Magdeburg gaben Anfang des 13. Jahrhunderts den Bau ihres Domes nach der neuen Architektur in Auftrag, bei der Ausführung blieben jedoch Elemente der Romanik erhalten. Als erste rein gotische Gotteshäuser auf deutschem Boden gelten die Liebfrauenkirche in Trier und die Elisabethkirche in Marburg.
Der seit 1230 in Mainz residierende Erzbischof Siegfried III. von Eppstein († 1249), der als Kurfürst und Erzkanzler politisch wohl mächtigste Kleriker im Reich, wollte seinem im Bau befindlichen spätromanischen Dom gotische Elemente hinzufügen lassen. Er verpflichtete einen Bildhauerarchitekten, der bereits in bedeutenden französischen Bauhütten erfolgreich tätig gewesen war. Dort arbeiteten Architekten, Steinmetze und Handwerker aus ganz Europa und verbreiteten nach Ablauf ihres Vertrages neu gewonnene Kenntnisse in den christlichen Ländern Europas.
Der von Erzbischof Siegfried engagierte, bis heute trotz intensiver Forschung namentlich unbekannte Baumeister schuf mit seinen Mitarbeitern in der Kathedrale am Main den gotischen Westlettner, der in der plastischen Darstellung des Weltgerichts den unverkennbaren persönlichen Stil dieses Künstlers trägt. Diese architektonische Trennung des Chorraumes für die Geistlichkeit vom Langschiff der Laien existiert nicht mehr. Sie wurde im 17. Jahrhundert bei Reformen in der katholischen Kirche abgebrochen. Fragmente liegen im Dom- und Diözesanmuseum Mainz.
Auf dem Bischofsstuhl in Naumburg saß seit 1242 Dietrich von Wettin (um 1190–1272), ein Halbbruder des Markgrafen Heinrich von Meißen, der wie sein Vorgänger sehr gute Beziehungen nach Mainz pflegte. Der Mainzer Erzbischof dürfte den französischen Domarchitekten und seine Mitarbeiter empfohlen haben. Der Werktrupp aus Bildhauern und Steinmetzen erhielt in Naumburg den Auftrag, einen gotischen Westchor an die romanische Kathedrale anzufügen. Zur Finanzierung rief der Bischof die Gläubigen zu Spenden auf. So entstand in etwa sechs Jahren ein Bau, der in der Kunstgeschichte einen heraus ragenden Platz einnimmt. Seinem unbekannten Schöpfer gab das Werk den Namen „Naumburger Meister“ und machte ihn unsterblich. Anschließend arbeitete die Bauhütte am Dom zu Meißen, dann verliert sich ihre Spur.
Der Auftrag zu dieser Kirchenerweiterung war nicht einfach. Zwei Türme begrenzten das Langhaus, an das der Westchor angefügt werden sollte. Es entstanden ein Chorquadrat und ein vier Stufen höher liegendes Polygon als Altarraum, in den durch fünf Meter hohe gotische Fenster mit wertvollen Glasmalereien gedämpftes Licht dringt. Der Anbau aus Muschelkalkstein ist 15 Meter breit und 25 Meter lang. Ihn trennt ein Lettner vom Kirchenschiff, der als einzigartiges Kulturdenkmal gilt. Es ist eine Arbeit des Naumburger Meisters. Die Front zum Laienraum dominiert eine Kreuzigungsgruppe. Dar über zeigt ein Fresko Christus als thronenden Weltenrichter (Majestas Domini), die rechte Hand segnend erhoben, in der Linken das Buch des Lebens. Den oberen Teil des Lettners ziert über die gesamte Breite ein mehrfarbiges Hochrelief mit acht ausdrucksvollen Szenen aus derLeidensgeschichte Christi vom letzten Abendmahl bis zur Szene in der Jesus das Kreuz trägt.
Betritt man den Westchor, fallen sofort die an den Wänden in vier Meter Höhe stehenden lebensgroßen zwölf Skulpturen auf, die die Kunstgeschichte als die bedeutendsten des deutschen Mittelalters hervorhebt. Sie gelten als ein Hauptwerk des Naumburger Meisters. Es sind Männer und Frauen des thüringisch-sächsischen Hochadels, die aus ihrem Vermögen den ersten Dom finanziert hatten und nun besonders geehrt wurden. Der Bildhauer schuf sie fast 200 Jahrhunderte nach ihrem Tod naturnah bis in Details der Kleidung und Bewaffnung; die Gesichter zeigen ausdrucksvolle Mimik von Zorn bis Lächeln. Die populärste Figur verkörpert für viele Besucher die kühle Schönheit Uta von Ballenstedt – die legendäreUta von Naumburg. Sie steht neben ihrem Ehemann Markgraf Ekkehard II. von Meißen (um 985–1046). Zusammen mit seinem Bruder Herrmann († 1038) hatte er die Verlegung des Bischofssitzes von Zeitz nach Naumburg unterstützt. Dessen Skulptur steht auf der anderen Chorseite direkt gegenüber, neben ihm ist Ehefrau Reglindis zu sehen.
Uta wurde aufgrund ihres edlen Aussehens in der Neuzeit zur Ikone. Der italienische Schriftsteller Umberto Eco („Der Name der Rose“) würdigte sie in seinem Buch „Geschichte der Schönheit“ auf besondere Weise: „Wenn Sie mich fragten, mit welcher Frau in der Geschichte der Kunst ich gern essen gehen und einen Abend verbringen würde, wäre da zuerst Uta von Naumburg.“ Die nationalsozialistische Propaganda stilisierte sie zum Vorbild der deutschen Frau, was Walt Disney veranlasst haben dürfte, in seinem Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ 1937 der bösen Schwiegermutter das Aussehen der deutschen Adeligen zu geben. Über sie ist in der Geschichte wenig zu erfahren. Uta stammte aus dem Adelsgeschlecht der Askanier und lebte von etwa 1000 bis 1046. Die Ehe blieb kinderlos. Jedes Jahr kommen etwa 130 000 Besucher in den Dom, um diese Ikone zu betrachten.
Kathedralen gelten als ewige Baustellen, auch der Dom zu Naumburg macht da keine Ausnahme. Im frühen 14. Jahrhundert ersetzten Baumeister den spätromanischen Altarraum (Apsis) des Ostchores durch ein hochgotisches Gewölbe mit sechs Spitzbogenfenstern. Die historisch wertvollen Glasmalereien stammen zum Teil noch aus dieser Zeit. Diesen, der Geistlichkeit vorbehaltenen Raum schließt ein Lettner. Er war beim spätromanischen Neubau um 1220 errichtet worden und ist der älteste noch in Deutschland erhaltene Hallenlettner. Die zweite Besonderheit in Naumburg: In keinem Gotteshaus, das zwei Chorräume aufweisen konnte, blieben bis heute die architektonischen Trennwände sowohl östlich als auch westlich des Langhauses erhalten.
Neben dem Dom steht – von weitem erkennbar – die spitz aufstrebende zweistöckige Dreikönigskapelle, deren Bau der damalige Bischof Gerhard II. von Goch (1409–1422) im frühen 15. Jahrhundert in Auftrag gegeben hatte. Eine Skulpturengruppe an der Frontseite weist auf die Heiligenaus dem Morgenland. Im Erdgeschoss befindet sich die Nikolauskapelle, wo heute der Museumsshop untergebracht ist. Über eine Außentreppe erreicht man den Andachtsraum. Hier sind die „Nazarenerbilder“ ausgestellt, Werke deutscher Künstler, die im frühen 19. Jahrhundert in Rom aus tiefer Religiosität an biblischen Themen arbeiteten und ihre Gruppe ursprünglich Lukasbund nannten.
Sie trugen ihr Haar lang und in der Mitte streng gescheitelt, so wie es von Jesus von Nazareth überliefert war. „Alla nazarena“ bezeichneten Italiener diese Frisur. Sie brachte den Malern den speziellen Namen ein. Der protestantische Naumburger Domherr und Kunstsammler Immanuel Christian Leberecht von Ampach (1772–1831) beauftragte während eines Besuches in Rom die Maler mit einem Christus-Zyklus für seine Privaträume. Nach seinem Tode kamen sie in Dombesitz. Acht der einst neun großen Ölgemälde hängen jetzt an den Wänden der Dreikönigskapelle. Das Gemälde „Christus, die Kinder segnend“ von Julius Schnorr von Carolsfeld verbrannte, als ein Großfeuer den Münchner Glaspalast 1931 in Schutt und Asche legte. Es hatte dort als Ausstellungsstück gehangen.
Das mittelalterliche Naumburg galt als recht wohlhabend. Die Stadt war auf Grund ihrer Lage am Schnittpunkt von Handelswegen ein bedeutender Messeplatz. In der reich eingerichteten Kathedrale versammelten sich die Gläubigen nicht nur an Sonn- und Feiertagen. An etwa 40 Altären lasen die katholischen Geistlichen ununterbrochen Messen oder hielten Andachten. Gegen entsprechende Zahlungen verkauften sie zur Finanzierung des Petersdomes in Rom so genannte Ablassbriefe, die nach katholischer Lehre Gläubigen die Befreiung von zeitlichen Sündenstrafen im Fegefeuer verhießen. Im ganzen Reich verkamen diese Spendenaktionen zu skrupelloser Geldbeschaffung für bestimmte Teile des Klerus. Dieser Missbrauch der Frömmigkeit war einer der Gründe, weswegen der Augustinermönch und Theologiegelehrte Martin Luther 1517 zur Reformation der katholischen Kirche aufrief. Seine Ideen stießen auf weite Zustimmung, auch in der Bevölkerung der territorial ausgedehnten Diözese Naumburg. Der katholische Bischof Philipp von der Pfalz (1517–1541) aus dem Hause Wittelsbach lehnte ebenso wie das Domkapitel die Reform ab, nahm aber nicht unmittelbar Einfluss auf den Glaubenskampf.
Am 7. April 1532, dem Sonntag nach Ostern, traf den Dom eine schwere Katastrophe. Ein mutwillig gelegtes Feuer zerstörte die Dachkonstruktion, weite Flächen des Mauerwerks und Teile der wertvollen mittelalterlichen Ausstattung. Der Brand wütete auch im Westchor und beschädigte die Stifterfiguren. Die Flammen griffen nach Einschätzung von Historikern nicht voll auf das Langhaus über, weil es der Lettner wie eine Mauer abschirmte. Nach einer Legende aber verhinderte die Madonna, deren Skulptur auf dem Lettner stand, die Ausbreitung. Sie erstickte mit ihrem Mantel die Flammen. An dem Platz stand damals tatsächlich die Plastik „Gottesmutter im Strahlenkranz“, die heute im Domschatzgewölbe zu sehen ist.
Der ganze Dombezirk ging fast vollständig im Flammenmeer unter. Bischof Philipp ließ sich über die Verwüstungen in der Ferne unterrichten. Er weilte meist in seinem Palais im bayerischen Freising, wo er Fürstbischof war. Nach seinem Tod bestimmte das Domkapitel in Naumburg 1541 den katholischen Domherrn Julius von Pflug (1499–1564) zum Nachfolger. Der protestantische sächsische Kurfürst Johann Friedrich I. (1503–1554) jedoch setzte in seiner Eigenschaft als Schirmherr des Stifts Naumburg Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) ein, einen Theologen aus dem engen Kreis um Martin Luther. Diesen ordinierte der Reformator am 20. Januar 1542 gegen den Widerstand des Domkapitels persönlich zum ersten lutherischen Bischof der Welt. Doch die katholischen Domherren machten ihm die Amtsführung schwer. Der Bischof residierte wohl deshalb nicht im Dombezirk, er bezog ein Haus am Marktplatz der Stadt. Als das Heer der protestantischen Fürsten im Schmalkaldischen Krieg 1547 von den Truppen Kaiser Karls V. vernichtend geschlagen wurde, brachte sich von Amsdorf auf protestantisches Gebiet in Sicherheit. Der sechs Jahre zuvor gewählte katholische Bischof von Pflug konnte endlich sein Amt antreten. Nach seinem Tod 1564 endete aber die Geschichte Naumburgs als katholisches Bistum. Naumburg wurde protestantisches Hochstift und fiel an Kursachsen.
Das verheerende Feuer blieb nicht das einzige Ereignis, das dem Gotteshaus schwere Schäden zufügte. Im Dreißigjährigen Krieg kam es mehrfach zu massiven Plünderungen durch Soldaten. Napoleons Truppen besetzten in ihren Feldzügen Naumburg und nutzten das Gotteshaus als Lazarett. Nach ihrem Abzug wurde die Kirche, so gut es ging, für Gottesdienste und liturgische Handlungen hergerichtet. Für grundlegende Restaurierungen fehlte dem Domkapitel Geld. Entsprechend war der Eindruck für Gäste. Johann Wolfgang von Goethe nannte nach einem Besuch 1813 den Dom „vermoderndes Gebäude“, zeigte sich aber durchaus angetan von verschiedenen Kunstwerken. Den Westchor mit den Stifterfiguren erwähnte er allerdings nicht. Der Raum diente als Abstellfläche für überflüssig gewordene liturgische Ausstattung. Der liturgisch wesentlich wichtigere Teil des Gotteshauses war ohnehin stets der Ostchor. Hier steht
bis heute an den Wänden mittelalterliches Gestühl für die Geistlichkeit. In der Mitte des Raumes fallen zwei hölzerne Lesepulte aus dem 16. Jahrhundert ins Auge, auf denen die bis zu 60 Kilogramm schweren großformatigen Chorbücher für die Gottesdienste lagen.
Bei der territorialen Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815 fiel der Besitz des Domkapitels an den König von Preußen. Sein Stadtplaner und Architekt Karl Friedrich Schinkel stellte bei einer Visite des Gotteshauses fest, wie dringend eine umfassende Restaurierung sei. Erst 1852 konnten sich die Domherren zu Erneuerungsarbeiten am Ostchor entschließen. Dann vergingen 22 Jahre, bis auf Druck und Finanzierungszusagen aus Berlin umfangreiche Arbeiten begannen. Ziel war eine „Purifizierung“, zu der auch der Abriss der spätbarocken Einbauten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörte. Die Fenster mit ihren wertvollen mittelalterlichen Glasmalereien in den beiden Chören wurden um fehlende Scheiben nach alter Kunst ergänzt. Eine der wichtigsten Baumaßnahmen veränderte von 1891 an die Außenansicht des Domes: Er erhielt – wie schon im Mittelalter geplant – an der Südseite auf dem seit sechs Jahrhunderten bestehenden Unterbau seinen vierten Turm; nur drei Jahre später war er fertig. Auch an den anderen drei Türmen fanden die notwendigen Arbeiten statt. Eine
weitere komplette Instandsetzung des Domes folgte dann zwischen 1960 und 1968.
Die Glasmalereien in mittelalterlichen Kathedralen zeigen meist Heilige, Angehörige des hohen Klerus oder religiöse Szenen. Aufmerksame Betrachter stoßen in den Seitenschiffen des Naumburger Domes auf die sogenannten Wappenfenster mit Namen aus der neueren deutschen Geschichte, darunter General Neidhardt von Gneisenau (1760–1831) oder Großadmiral Hans von Koester (1844–1929). Mit dem Übergang des Stifts an Preußen waren nach und nach Persönlichkeiten aus der politischen und militärischen Führungselite des Staates als neue Domherren an die Stelle des geistlichen Adels getreten.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die kirchlichen Einrichtungen des ehemaligen Bistums Stiftungen öffentlichen Rechts. Durch Zusammenschluss im Jahr 1930 entstanden die Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz. Die gemeinnützige Einrichtung verfolgt kirchliche, kulturelle, wissenschaftliche und soziale Ziele. Besonders kümmert sie sich um die Gebäude und Kunstschätze in ihrem Besitz und sorgt für
konservatorische Erhaltung. Im Mittelpunkt stehen der Naumburger und der Merseburger Dom, die Marienkirche in Naumburg sowie das Franziskanerkloster und die Michaeliskirche in Zeitz. Höchstes Gremium der Vereinigten Domstifter ist ein ehrenamtlich tätiges Domkapitel aus sieben Domherren oder Domherrinen unter der Führung eines Dechanten. Alle müssen der Evangelischen Kirche Deutschlands angehören.
Vor gut zehn Jahren lagen die mittelalterlichen Kunstwerke, die die bewegte Geschichte überdauert hatten, in einem Depot und waren nicht zu besichtigen. Nur durch den Dom zogen die Besucher. Bis im Kapitel die Entscheidung fiel, eine kleine hochwertige Kunstsammlung einzurichten. Die Wahl fiel auf ein Kellergewölbe aus dem 13. Jahrhundert, das anfangs wohl als Vorratskammer diente und zuletzt ein Luftschutzbunker war. 2003 begannen die Bauarbeiten, 2006 war das Museum mit seinen etwa 284 Quadratmetern Fläche fertig und erhielt den Namen Domschatzgewölbe. Die frisch restaurierten Räume von Domstiftsarchiv und -bibliothek mit 2000 mittelalterlichen Urkunden, 30 000 Akten vom 14. bis 19. Jahrhundert und ebenso vielen Büchern, darunter die wertvollen, vor Jahrhunderten gestalteten Chorbücher für die Gottesdienste, wurde im Dezember 2012 im Klausurgebäude eröffnet.
Europaweite Aufmerksamkeit unter Kunstkennern erregten die Vereinigten Domstifter im Jahr 2011, als sie die Landesaustellung von Sachsen-Anhalt „Der Naumburger Meister – Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen“ organsierten. Sie gab einen tiefen und umfassenden Einblick in die Kunst des europäischen Mittelalters. Rund 800 Exponate kamen nicht nur aus Naumburg und anderen deutschen Einrichtungen sondern auch aus Frankreich, Polen, Großbritannien und Österreich. Fast 200 000 Besucher sahen von Juni bis November die Ausstellung, die Naumburg bei Kunstinteressierten zu einem gefragten Ziel machte.
Horst Heinz Grimm
Zwei spektakuläre Ausstellungen des Europarates zur deutschen Geschichte stellten in den vergangenen zehn Jahren das Kulturhistorische Museum Magdeburg international in den Brennpunkt des historischen Interesses: „Otto der Große, Magdeburg und Europa“ 2001 und „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806“ 2006. Die seit 1954 in den Mitgliedsstaaten bisher veranstalteten 29 Ausstellungen unter der Ägide der Organisation in Straßburg sollen in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für das reiche europäische Kulturerbe verstärken. Vielbeachtet waren im vergangenen Jahrzehnt auch die Exhibitionen „Spektakel der Macht. Rituale im alten Europa 800-1800“ und „Aufbruch in die Gotik. Der Magdeburger Dom und die späte Stauferzeit“. Viel Beifall gab es ebenfalls für die Stadtgeschichtsausstellung „Magdeburg 1200 – Mittelalterliche Metropole, Preußische Festung, Landeshauptstadt“ zum Jubiläum der ersten schriftlichen Erwähnung als bedeutender Handelsplatz der Karolinger im Jahr 805, der den Namen Magadoburg trug.
Die historische Bedeutung Magdeburgs begann, als Otto I. (912-973), schon zu Lebzeiten „der Große“ genannt, diesen Ort an einer Elbfurt zu seinem bevorzugten Herrschaftssitz auserkor. 937, ein Jahr nach seiner Wahl zum deutschen König, stiftete er das Moritzkloster. Geweiht war es dem heiligen Mauritius, dem Bekämpfer der Heiden. Für Otto I. stand Missionierung der europäischen Ostgebiete im Vordergrund seiner Politik. Auf sein Betreiben wurde Magdeburg 968 zum Erzbistum erhoben. Die Stadt erlebte eine erste Blütezeit, das Moritzkloster mit seinem ausgedehnten Landbesitz kam durch Markt-, Münz- und Zollrecht zu Reichtum.
Allerdings überschatteten permanente Kontroversen die Beziehungen zwischen dem herrschenden Klerus und der Bürgerschaft. Der Erzbischof als oberster Stadtherr musste unter dem Druck seiner Untertanen schließlich Zugeständnisse machen. Aus diesen Freiheiten entwickelte sich im 12. Jahrhundert das so genannte Magdeburger Recht, das persönliche Freiheiten, die Prozessordnung und allgemeine Rechtsfragen unter besonderer Berücksichtigung des Handels und der Kaufleute regelte. Viele Städte in Mittel- und Osteuropa übernahmen es für ihren Bereich. 1294 kauften die reich und mächtig gewordenen Bürger ihrem Kirchenfürsten dann die richterliche und administrative Gewalt ab, eine Art kommunaler Selbstverwaltung fand damit vorerst ihren Abschluss.
Die frühe Mitgliedschaft in der Hanse seit dem 13. Jahrhundert, die strategische Lage als Knotenpunkt der Fernhandelswege an der Elbe, eine fleißige Handwerkerschaft und gewiefte Kaufleute ließen Magdeburg im ausgehenden Mittelalter zu einer reichen Großstadt nach damaligen Begriffen wachsen – mit geschätzt 25.000 Einwohnern. Inzwischen war seit 1209 auf den Ruinen der von einem Brand zerstörten Südkirche einer Doppelkirchenanlage das mächtige Gotteshaus St. Mauritius entstanden, der erste gotische Dom auf deutschem Boden nach französischem Vorbild. Erzbischof Albrecht I. (1170-1232) aus dem thüringischen Adelsgeschlecht Käfernburg hatte für die dreischiffige Basilika mit Chorumgang diesen neuen Baustil gewählt.
Die antiklerikale Stimmung im Erzbistum verschärfte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts. So stießen Martin Luthers Thesen hier schnell auf große Sympathien, Magdeburg führte die Reformation 1524 gegen heftigen Widerstand des Kirchenfürsten ein. Katholizismus als einziges Glaubensbekenntnis, wie vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gefordert, ließ sich nicht mehr durchsetzen. Als Strafe verhängte der Herrscher 1547 über die Stadt die Reichsacht und machte sie damit unfreiwillig zu einem Zentrum des Protestantismus in Deutschland. Die Machtkämpfe zwischen Magdeburg und dem katholischen Herrscherhaus erreichten ihren tragischen Höhepunkt schließlich im Dreißigjährigen Krieg. Etwa 24.000 kaiserliche Soldaten eroberten mit mehr als zehnfacher Übermacht am 20. Mai 1631 unter Führung des Feldherrn Johann t’Serclaes Tilly die stolze Hansestadt. Die Angreifer gingen mit äußerster Brutalität vor, zwei Drittel der Bevölkerung fielen ihnen zum Opfer. Dieses größte und schlimmste Massaker des weite Gebiete Mitteleuropas verheerenden Krieges bekam schnell den Begriff „Magdeburger Hochzeit“. Zynisch ist damit gemeint, dass der Kaiser die im Stadtwappen abgebildete Jungfrau als Braut „genommen“ hatte, die sich Jahrzehnte lang gegen die Rekatholisierung geweigert hatte. Unter „Magdeburgisieren“ versteht man heute noch eine totale Vernichtung.
Der Wiederaufbau der zerstörten Stadt dauerte, der Krieg und seine Folgen behinderten ihn. Erst der Westfälische Friede von 1648 bestimmte, dass Magdeburg „die alte Freiheit und das Privilegium Ottos I.“ wieder erhalten sollte. Doch der von Sachsens Kurfürst eingesetzte Prinz August als Administrator des Erzbistums blockierte die Entwicklung. So entschieden sich die Stadtväter 1666 für eine engere Anlehnung an das protestantische Brandenburg, dem laut Friedensvereinbarungen Magdeburg nach dem Tod des Verwalters als Besitz zustand. 1680 wurde Magdeburg Herzogtum und der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm neuer Landesherr, der vor allem die strategische Lage als Grenzbastion erkannte und sie ausbauen ließ. Das Edikt von Potsdam erlaubte die Zuwanderung von rund 4.000 wegen ihres Glaubens in Frankreich verfolgter Hugenotten. Mit der Gründung des Königreiches Preußen begann eine neue Zukunft: Soldatenkönig Friedrich I. setzte 1701 den populären General Fürst Leopold von Anhalt-Dessau (1676-1747), den „Alten Dessauer“, als Gouverneur ein. An der Elbe entstand eine wehrhafte, repräsentative Barockstadt. Industriebetriebe wurden gegründet, die Wirtschaft florierte. In der Festung, eine der größten in Europa, lagen 23 000 Soldaten, als Napoleon Bonaparte mit seinen Armeen Europa überrannte. Magdeburg kapitulierte und entging einer neuen Zerstörung, wurde aber Teil des Königreichs Westphalen. Mit der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress kam die Elbmetropole wieder zu Preußen und wurde 1816 Hauptstadt der Provinz Sachsen im Deutschen Bund, dem Zusammenschluss von 35 Fürstentümern und vier reichsfreien Städten.
Mit wachsendem Wohlstand begann sich das kaufmännisch geprägte Bürgertum zunehmend für Kunst zu interessieren, die hier bislang keinen großen Stellenwert besaß. Anders sah es in den Residenzstädten der zahlreichen deutschen Fürstentümer aus. Deren Herrscher ließen seit dem 17. Jahrhundert wertvolle Sammlungen zusammentragen. Sie folgten dem Vorbild der großen europäischen Höfe, an denen teilweise üppig bestückte „Kunst- und Wundercammern“ für Aufsehen sorgten. 1835 wurde schließlich der Magdeburger Kunstverein gegründet. 14 Jahre später erhoben Kunstfreunde laut die Forderung nach einer eigenen öffentlichen Gemäldesammlung, die jedoch erst im November 1893 im Gebäude des ehemaligen Generalkommandos am Domplatz öffnen konnte. Verantwortlich dafür war der in Kunstgeschichte promovierte Theodor Volbehr (1862-1931), den der Stadtrat auch mit einem Museumsneubau beauftragte. Zwei Jahre Planung und sieben Jahre Ausführung brauchte der österreichische Architekt Friedrich Ohmann (1858-1927) zur Realisierung. Von ihm stammen in Wien unter anderem alle Hochbauten und Brücken, die zur Regulierung des Wienflusses notwendig geworden waren.
Zur feierlichen Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Museum am 16. Dezember 1906 erschien auch Kronprinz Friedrich Wilhelm. Die Sammlung trug den Namen des Herrschers, der 1888 als Kaiser Friedrich III. nur 99 Tage regierte, ehe er seinem Kehlkopfkrebs erlag. Sein Vater Wilhelm I. hatte den Kunstliebhaber 1871 zum Protektor der königlichen Museen in Berlin ernannt, denen er mehr Geld verschaffte und Anregungen zum Aufbau von Kupferstich- und Münzkabinetten gab. Volbehr, einer der bedeutenden deutschen Kunsthistoriker seiner Zeit, blieb bis 1923 im Amt und entwickelte das Museum programmatisch zu einer “Volksbildungsstätte“.
Als Teil Preußens wuchs Magdeburg weiter zu einer der bedeutendsten Städte auf deutschem Boden. Es entstand eine kulturelle Szene, verschiedene Industriebetriebe siedelten sich an, Bahnstrecken führten nach Leipzig, Berlin und Hamburg, die Elbe als Schifffahrtstraße wurde stärker genutzt. Dazu kam rege Bautätigkeit. Lebten 1816 hier 28.000 Menschen, war 1850 die Zahl von mehr als 50.000 überschritten, drei Jahrzehnte bereits 100.000 Einwohner. Im Rathaus feierte man den Status einer Großstadt. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 1910, der letzten vor dem Ersten Weltkrieg, registrierten die Behörden 280.000 Bürger. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war Magdeburg eines der führenden Wirtschaftszentren Deutschlands mit fast 330.000 Einwohnern.
Als die Bomberflotten der Alliierten ihre Angriffe gegen Hitlerdeutschland flogen, nahmen sie die Stadt an der Elbe besonders ins Visier, erstmals im August 1940. Hier lagen kriegswichtige Betriebe der Schwer- und Rüstungsindustrie. Der vernichtende Luftschlag traf Magdeburg am 16. Januar 1945. Die historische Altstadt mit ihren eindrucksvollen Gebäuden verwandelte sich in ein Flammenmeer, auch der Dom und das Kloster „Unser Lieben Frauen“ erhielten Treffer. Mindestens 2000 Menschen starben, nahezu 200.000 wurden obdachlos. Im April eroberten US-Truppen den westlichen Teil der Stadt, Anfang Mai besetzten sowjetische Einheiten den Osten. Am 1. Juli übernahm die Rote Armee das gesamte Stadtgebiet, eine Trümmerlandschaft. Magdeburg zählte in Deutschland zu den Orten mit den höchsten Zerstörungsgraden.
Auch das Museumsgebäude im Neorenaissance-Stil war von den Bomben schwer beschädigt worden. Als die Waffen schwiegen und die Verantwortlichen sich wieder um die Kunstsammlungen kümmern konnten, stellten sie mit Entsetzen die enormen Verluste fest, die Hitler-Diktatur und Krieg dem Museum zugefügt hatten. Zunächst hatten die Nationalsozialisten in ihren ideologisch motivierten, landesweiten Aktionen gegen „Entartete Kunst“ im Jahr 1937 auch in Magdeburg zahlreiche von ihnen als „undeutsch“ und „bolschewistisch“ klassifizierte Gemälde, Graphiken und Plastiken der Moderne beschlagnahmt. Viele Werke wurden ins Ausland verkauft, viele vernichtet oder verschwanden im Besitz hoher Parteifunktionäre. Die verbliebenen Sammlungen waren bei Kriegsbeginn aus Schutz vor Zerstörungen vor allem in die Salzbergwerke im nahen Neustaßfurt. ausgelagert worden. Im April 1945 besetzten US-Soldaten vorübergehend das Gebiet. In diese Zeit fielen die Diebstähle und die Brandstiftungen, durch die fast zwei Drittel des nicht nur unter Tage ausgelagerten Museumsbestandes verloren gingen, darunter etwa 400 Gemälde von europäischem Rang. Werke von Vincent van Gogh, Paul Cézanne, Max Liebermann und vielen anderen Künstlern beklagt das Museum heute als Kriegsverluste.
Der Wiederaufbau der Sammlungen in der Nachkriegszeit gestaltete sich äußerst schwierig. Die Wiederherstellung des Gebäudes konnte erst 1961 im Wesentlichen abgeschlossen werden. Es fehlten besonders in den Anfangsjahren finanzielle Mittel für Ankäufe. Darüber hinaus setzte die sozialistische Ideologie der DDR andere Prioritäten. Dennoch gab es bedeutende Zugänge zum Beispiel in der Grafiksammlung und das Museum präsentierte wichtige Dauer- und Sonderausstellungen sowohl zur Ur- und Frühgeschichte, zur mittelalterlichen Stadtgeschichte oder zur Kunstgeschichte. Mit der Wiedervereinigung konnte an einen Neubeginn in dem stark sanierungsbedürftigen Bau gedacht werden. Dazu berief die Stadt im Jahr 1991 den promovierten Historiker Matthias Puhle zum Direktor ihrer Sammlungen. Fortan waren regelmäßig historische Ausstellungen zu sehen, Magdeburg kehrte mit beachteten Präsentationen wieder auf die internationale Kunstszene zurück. „Museen sind das Gedächtnis der Menschheit – ein Wissensspeicher, der kontinuierlich gepflegt, restauriert und erforscht werden muss“, sagte Puhle im Jahr 2010 in einem Zeitungsinterview.
Der Bestand des sanierten und modernisierten Kulturhistorischen Museums kann sich längst wieder sehen lassen. Außer 800 Gemälden und mehreren Zehntausend Graphiken vom 16. bis zum 20. Jahrhundert liegen etwa 400.000 archäologische Funde in den Depots, dazu kommen Münzen, Medaillen, Militaria und Kunsthandwerke, darunter wertvolle Artefakte wie ein Löwen-Aquamanile aus dem 12. Jahrhundert. Die 58.000 Objekte der Bibliothek – auch Handschriften Martin Luthers und die städtische Gerichtsordnung aus dem Jahr 1625 – stehen nur für Ausstellungszwecke und wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung. Darüber hinaus hat Museumspädagogik einen hohen Stellenwert, wie eine Seniorenakademie und die für Kinder eingerichtete spätmittelalterliche Spielstadt „Megdeborch“ zeigen. Eine reichhaltige Sammlung gibt Einblick in die Stadtgeschichte, die künftig eine Dauerausstellung erhält. Objekte des Alltagslebens und hochrangige Kunstwerke zeigen, dass die Stadt beispielhaft die Entwicklung der europäischen Kultur- und Herrschaftsgeschichte widerspiegelt; Traditionsbrüche und Neuanfänge liefern zudem den Stoff für einen spannenden Museumsbesuch und Anregungen, das Wissen zu vertiefen an den historischen Orten im Dom, im Kloster Unser Lieben Frauen oder auch im Guerickezentrum, das dem Leben und Werk des bedeutenden Wissenschaftlers und Bürgermeisters Otto von Guericke gewidmet ist. Ein Neubau an der Südseite des Museums schließt künftig das Museumsgeviert ab und ermöglicht in Zukunft großzügige Rundgänge durch die Ausstellungen.
Otto von Guericke (1602-1686), der vor seiner Erhebung in den Adelsstand Otto Gericke hieß, bestimmte entscheidend die Geschichte der Stadt. Schon mit 24 Jahren bekleidete er das Amt eines Ratsherrn. 1632 übertrug man ihm den Wiederaufbau der völlig verwüsteten Stadt. Seit 1642 war von Guericke dann auch 21 Jahre in diplomatischen Missionen unterwegs, so bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden in Osnabrück und beim Reichstag zu Regensburg. Als Wissenschaftler erlangte er Weltruf mit der Erfindung der Vakuumpumpe. Sie war Grundlage für von Guerickes spektakuläres Experiment mit den „Magdeburger Kugeln“: Dafür legte er zwei Halbkugeln aus Metall aneinander, saugte die Luft ab und spannte dann vor jede acht Pferde. Die Tiere schafften es nicht, die unter Vakuum stehenden Hälften auseinanderzureißen.
Eines der Magdeburger Symbole steht im Kaiser-Otto-Saal des Museums, der auch für Veranstaltungen genutzt wird: Der „Magdeburger Reiter“ aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Die Plastik stellt vermutlich Otto I. beim Einzug in seine Lieblingspfalz dar. Eine der weiblichen Begleitfiguren trägt einen Schild mit dem Reichsadler, die andere eine Fahnenlanze, die Insignien der Macht. Es gilt als das erste bekannte freistehende Reiterstandbild nördlich der Alpen. Die Statue aus Sandstein war früher farbig gefasst und hatte bis ins 20. Jahrhundert ihren Platz auf dem mittelalterlichen Gerichtsplatz vor dem historischen Rathaus am Alten Markt. Dort steht jetzt eine Bronzekopie. An Otto den Großen erinnern im Festsaal auch das monumentale Wandbild von Arthur Kampf (Ausschnitt Seite 69) und ein vier Tonnen schweres Steingrab aus dem 10. Jahrhundert, die Auskleidung einer Grabgrube aus Sandstein und Muschelkalk, die 2001 unter dem Domplatz entdeckt und ausgegraben wurde.
Horst Heinz Grimm
Für Freunde der modernen Malerei zählt die Stiftung Moritzburg in Halle an der Saale zu den ersten Adressen in Deutschland. Als Besonderheit präsentiert dieses Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt eine der bedeutendsten privaten Kollektionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Kunstrichtung des Expressionismus zusammengetragen wurde.Die Privatsammlung Hermann Gerlinger, die etwa 900 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken der Künstlergruppe „Brücke“ umfasst. Der Würzburger Kunstsammler und mittelständische Unternehmer überließ sie der Moritzburg als Dauerleihgabe.
Die Sammlung Hermann Gerlinger bedeutet für den Museumsstandort Halle an der Saale den Anschluss an eine große Tradition. Die Stadt positionierte sich mit ihrer Kunstsammlung schon vor 100 Jahren – gegen den damaligen Kunsttrend – als Vorreiter der Moderne. Der von den Stadtvätern 1908 mit nur 28 Jahren zum Leiter berufene Kunsthistoriker Max Sauerlandt gab der traditionellen Sammlung ein grundlegend neues Profil. Sein Engagement galt vor allem den Expressionisten, die er ungeachtet der Proteste aus konservativen Kreisen „museumsfähig“ machte. Als er beispielsweise 1913 Emil Noldes Gemälde „Abendmahl“ erwarb, diskutierten die Bürger öffentlich heftig darüber, ob zeitgenössische Kunst denn überhaupt „museumswürdig“ sei. Das Bild beschlagnahmten die Nationalsozialisten 1937 als „Entartete Kunst“; seit 1956 hängt es im Statens Museum in Kopenhagen.
Nach Sauerlandt, der an das Museum für Kunst und Gewerbe nach Hamburg wechselte, folgte der für die neuen Richtungen in der Malerei und Grafik begeisterte Kunsthistoriker Alois Schardt. Rückblickend betrachtet wird deutlich, dass diese beiden Direktoren die Sammlung in Halle zu einem Zentrum für zeitgenössische Malerei in Deutschland machten, dessen Ruf sich bald international verbreitete. Sie waren auch mit Malern und Grafikern befreundet. Sauerland beispielsweise traf sich privat häufig mit Nolde und Schmidt-Rottluff.
Dann kamen 1933 die Nationalsozialisten an die Macht und hetzten gegen die Moderne. Kunstfreunde, die dem neuen Staat politisch durchaus nicht ablehnend gegenüberstanden, versuchten, die „Brücke“-Künstler als „Erben einer deutsch-gotischen Tradition“ darzustellen und den Expressionismus als „schützenswertes geistiges Gut“ einzustufen. Vergebens. So mussten die als „undeutsch“ und „kulturbolschewistisch“ diffamierten Gemälde, Grafiken und Plastiken aus den Ausstellungsräumen verschwinden. Bis 1937 die Machthaber mit der ideologisch motivierten Aktion „Entartete Kunst“ aus den deutschen Museen insgesamt fast 17.000 Arbeiten des 20. Jahrhunderts entfernen ließen. Ein Teil der Arbeiten wurde vernichtet, andere ins Ausland verkauft. Auch die Moritzburg erlitt dadurch schwersten Schaden. Mehr als 60 Gemälde und über 120 grafische Arbeiten der Moderne verschwanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte sozialistische Kulturpolitik die Museumspolitik.
Die „Brücke“ gilt als die bedeutendste Künstlergruppe des Expressionismus in Deutschland. Die vier Architekturstudenten Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976), Fritz Bleyl (1880-1966) und Erich Heckel (1883-1970), von denen keiner eine akademische Maler-Ausbildung besaß, gründeten sie am 7. Juni 1905 in Dresden mit dem Ziel, als Autodidakten der Kunst eine völlig neue Richtung zu geben. Sie wollten sich von den festgefahrenen Traditionen lösen und schrieben ihre Ziele in einem Programm fest.
Dem Quartett schlossen sich Otto Mueller (1874-1930), Max Pechstein (1881-1955) und Emil Nolde (1867-1956) an. Fünf weitere Künstler verband eine eher lockere Zusammenarbeit mit der Gruppe, sodass sie nicht zum engeren Kreis gezählt und ihre Werke in dieser Edition nicht vorgestellt werden. Große Vorbilder dieser Künstler, die von 1911 an in Berlin arbeiteten, waren der niederländische Maler Vincent van Gogh und der Franzose Paul Gauguin. Das Establishment zeigte sich schockiert von den „primitiven“ Arbeiten, Kaiser Wilhelm II. sprach von der Moderne verächtlich als „Rinnsteinkunst“.
Kräftige Konturen, vereinfachte, holzschnittartige Formen, realistische Motive und leuchtende Farbkontraste gelten als Merkmale des „Brücke“-Stils. Mit ihrem Drang weg von akademischen Traditionen entwickelten sie sich zur Speerspitze der deutschen Avantgarde. Die Künstler ließen sich auch von der Kunst der Naturvölker in Afrika und der Südsee inspirieren, sie faszinierte die Darstellung des nackten Menschen in der Natur. Die Sammlung Hermann Gerlinger zeigt auch ausgesuchte Objekte außereuropäischer Kulturkreise wie die abgebildeten Kultmasken (Seite 11).
Eine erste Ausstellung der vier Dresdner fand im Herbst 1906 statt. Sie begann unter einem schlechten Vorzeichen: Die Polizei verbot einen Frauenakt von Fritz Bleyl. Die wenigen Besucher zeigten sich schockiert von den gezeigten Werken, Kritiker nannten die Künstler „Hottentoten im Frack“. Doch die Freunde gaben nicht auf, sie betrieben geschickte Selbstvermarktung und warben um „passive“ Mitglieder für ihre exklusive Künstlervereinigung – bis zur Auflösung waren es insgesamt 68. In diesem Kreis trafen sich Sammler, Mäzene und Kunsthistoriker, unter ihnen Rosa Schapire, die als eine der ersten Frauen in Deutschland in diesem Fach promivierte und später eine enge Freundschaft zu Schmidt-Rottluff unterhielt. Als Gegenleistung für die Beiträge bedachte die „Brücke“ bis 1912 ihre Freunde mit Jahresmappen, die Originalgraphiken der Künstler enthielten. Sie geben einen komprimierten Einblick in die stilistische Entwicklung und den herausragenden Rang des druckgraphischen Schaffens. Die Sammlung Hermann Gerlinger besitzt diese Mappen.
Der einheitliche Stil der „Brücke“-Künstler verwässerte sich 1912, der Individualismus jedes Einzelnen machte sich bemerkbar. Schließlich kam es zum Zerwürfnis. Die „Brücke“ brach am 27. Mai 1913, die Kunst des Expressionismus aber entwickelte sich weiter, die Künstler fanden zu ihren eigenen Ausdrucksweisen.
Hermann Gerlinger entdeckte schon als Student in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sein Interesse für die Moderne. Anfangs begeisterten ihn Werke der Künstlergemeinschaft „Blauer Reiter“, doch dann wandte er sich ausschließlich den Arbeiten der „Brücke“ zu und begann diese gezielt zu sammeln. Den Anfang machte der Holzschnitt „Melancholie“ aus dem Jahr 1914 von Karl Schmidt-Rottluff. „Aus heutiger Sicht war es zunächst eine ganz naive Begeisterung für Holzschnitte der ‚Brücke‘-Maler, die mich veranlasste, dieses erste Blatt und dann immer weitere zu erwerben“, erinnerte sich Gerlinger in einem Vortrag. Die Suche nach bestimmten Bildern und Grafiken dauerte oft Jahre. Doch im Laufe von fünf Jahrzehnten kam so diese bedeutende Kollektion mit monographisch-dokumentarischem Ansatz zustande. Einladungen zu Ausstellungen, Mitgliedskarten und Plakate sowie die druckgrafischen Mappenwerke runden das Schaffensbild der „Brücke“-Künstler ab.
Im Mittelpunkt der Sammlung steht die eigentliche Zeit der „Brücke“ – erst in Dresden, dann in Berlin – mit den sinnlichen, farbstarken Gemälden, Holzschnitten, Zeichnungen und Aquarellen der jungen Malerfreunde. Deutlich erkennt der Betrachter die weitere Entwicklung der Künstler vom homogenen „Brücke“-Stil zum eigenen, individuellen Ausdruck in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Denn Gerlinger sammelte das Schaffen der „Brücke“-Maler monografisch von ihren frühesten Anfängen bis ins reife Spätwerk und wurde so zu einem erkannten Fachmann. Der starke Anteil der Werke Schmidt-Rottluffs erklärt sich mit der persönlichen Freundschaft zwischen dem Sammler und dem Künstler.
Gezeigt wurde diese private Sammlung von Werken der „Brücke“-Maler in der Moritzburg erstmals 2001. Und sie sollte schließlich hier ihr endgültiges Domizil finden. Zwischen der Stiftung Moritzburg und Hermann Gerlinger kam im März 2004 ein Vertrag zustande, mit dem sie als ständige Leihgabe an das Museum überging. In seiner Heimatstadt Würzburg hatten sich die Offiziellen dafür nicht genügend engagiert.
In der Stiftung Moritzburg erkannte man früh die große Chance, die Kollektion dauerhaft zu übernehmen und kalkulierte dafür erhebliche finanzielle Mittel ein. Es musste vor allem Platz geschaffen werden, um die bestehenden Bestände ergänzen zu können. Dazu bot sich die pittoreske Ruine des Westflügels an. Der Auftrag ging nach einer Ausschreibung an die jungen spanischen Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano. Nach dreijähriger Bauzeit besaß die Moritzburg 4000 Quadratmeter Ausstellungfläche mehr, verteilt auf zwei Etagen. Ein Blickfang ist die moderne Dachkonstruktion. Die Baukosten beliefen sich auf 18 Millionen Euro, ein Teil stammte aus Fördermitteln der Europäischen Union. Im Dezember 2008 konnten die neuen Räume für Besucher geöffnet werden. Die Arbeiten der „Brücke“-Künstler sind an repräsentativer Stelle zu sehen. Angesichts des Umfangs der Sammlung Hermann Gerlinger kann nicht der gesamte Bestand zugleich gezeigt werden. Deshalb werden jährlich mehrere Szenenwechsel zusammengestellt, die thematisch ausgerichtet sind.
Die Moritzburg als ein Zentrum der Moderne verdient einen kurzen Blick in ihre bewegte Geschichte. Der beeindruckende spätmittelalterliche Gebäudekomplex entstand am damaligen Stadtrand als eine Mischung aus Festung und Schloss der über Halle herrschenden Erzbischöfe von Magdeburg. Von hier aus regierte auch der verschwenderische Markgraf Kardinal Albrecht von Brandenburg seinen Machtbereich und machte die wegen ihrer Salinen bekannte Stadt zu einem Zentrum der fürstlichen Frührenaissance in Deutschland. Um seine eigenen Kassen zu füllen, protegierte er den einträglichen „Ablasshandel“, mit dem sich gläubige Katholiken von Sündenstrafen freikaufen wollten. Martin Luther trat mit seiner Reformation als direkter Widersacher dieses Kirchenfürsten auf, der sich 1541 mit seinen reichen Schätzen nach Mainz zurückzog.
Im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) erlitt die Anlage durch wechselnde Besetzungen schwere Schäden. Danach folgte unter anderem die Nutzung durch das Militär. Mit dem Aufkommen der geistigen Strömung der Romantik gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die von Grün durchwucherte Festung zu einem Ideal jener Epoche. Selbst Preußens Kronprinz Friedrich Wilhelm zeigte sich bei einem Besuch im Jahr 1817 schwärmerisch beeindruckt. Dies trug sicher dazu bei, dass die Behörden 1822 die Moritzburg zum Denkmal erklärten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Renovierungsarbeiten, die Nutzung als Museum begann dann 1904. Es dauerte noch gut eineinhalb Jahrzehnte, bis die Gemäldesammlung hier einziehen konnte.
In der Weimarer Republik wurde die Moritzburg zu einem Zentrum der Moderne, besonders des Expressionismus. Dann übernahm die Ideologie der Nationalsozialisten die künstlerische Ausrichtung. Nach dem Krieg konnte das Museum 1948 wieder eröffnen, musste aber nun den sozialistischen Sammlungsvorgaben folgen. Die politische Wende eröffnete neue Möglichkeiten für das Museum, das – seit 2004 als Stiftung Moritzburg – die große Tradition der Moderne fortsetzen konnte. Als besonderer Beitrag dazu darf die Sammlung Hermann Gerlinger als Dauerleihgabe gesehen werden. Der Mäzen und dessen Ehefrau Hertha wurden dafür 2009 zu Ehrenbürgern von Halle ernannt.
Horst Heinz Grimm
Kunstfreunde sehen ihn als Multitalent der Klassischen Moderne: Bildhauer, Zeichner, Grafiker, Schriftsteller. Ernst Barlachs Werke, vor allem die Skulpturen und Plastiken, genießen internationalen Ruf. „Den Dichter Ernst Barlach zu beurteilen, das ginge über meine Kompetenz. Aber über den Bildhauer Barlach habe ich ein Urteil: Dieser sehr norddeutsch geprägte Expressionist gehört zu den großen deutschen Künstlern unseres grausamen Jahrhunderts“, schrieb der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt im Frühjahr 1995 in der Wochenzeitung „Die Zeit“. Etwas versteckt im Wald am Inselsee nahe der ehemaligen mecklenburgischen Residenzstadt Güstrow pflegt die Stiftung, die seinen Namen trägt, das umfangreiche Erbe des Expressionisten. Ein moderner Bau und das benachbarte einstöckige frühere Atelierhaus des Künstlers dienen als Museum. Ein Teil seiner Plastiken steht in der zum Museum gehörenden 500 Jahre alten Gertrudenkapelle in der Nähe des Stadtzentrums. In diesen drei Stätten ist der größte zusammenhängende Werkbestand an bildhauerischen, graphischen und schriftlichen Arbeiten, Skizzen und Entwürfen aus allen Schaffensperioden Ernst Barlachs an einem Ort erhalten konzentriert.
Um Barlachs umfangreiches Werk – er schuf Dutzende von Plastiken und Skulpturen, Hunderte von Zeichnungen, Lithographien und Holzschnitte, sieben Dramen und mehrere Romane – zu verstehen, muss man sich mit seiner Person befassen. Er selbst gab mit seiner 1928 erschienen Autobiographie „Ein selbsterzähltes Leben“ eine kleine Hilfestellung dazu. Diese knappe Darstellung endet allerdings im Jahr 1910, als er sich in Güstrow niederließ. Der Autor konnte die bevorstehende dramatische Entwicklung seines künstlerischen Weges beim Schreiben wohl noch nicht ahnen. Reaktionäre nationalistische Kräfte nahmen den Expressionisten, dessen Stil gar nicht ihrer Denkweise entsprach, auf dem Höhepunkt seines Schaffens ins Visier ihrer Anfeindungen. Am Ende standen Verfemung und üble Schmähung des Künstlers und seiner Arbeiten.
Barlach kam am 2. Januar 1870 in der damals preußischen Gemeinde Wedel (bei Hamburg) als ältester von vier Söhnen des Landarztes Georg Barlach zur Welt. Malen, Zeichnen und Schreiben gehörten traditionell zur Freizeitbeschäftigung der Familie. Die praktisch veranlagte Mutter Luise jedoch konnte sich für Künstlerisches nicht begeistern. Zwei Jahre nach der Geburt des Ältesten wechselten die Barlachs ins mecklenburgische Schönberg, fünf Jahre darauf ließen sie sich in Ratzeburg nieder. Sie waren Eltern von insgesamt vier Kinder: den Erstgeborenen, Hans (1871) sowie die Zwillinge Nikolaus und Joseph (1872). Nach dem überraschenden Tod des Vaters 1884 – er starb an einer Lungenentzündung – kehrte Luise Barlach mit den Kindern nach Schönberg zurück.
In der Realschule fiel dem Zeichenlehrer das Talent des Schülers Barlach auf. Er empfahl ihm als Fortbildung den Besuch der dreijährigen Hamburger Gewerbeschule, wo er in der Modellierklasse von Theodor Richard Thiele unterrichtet wurde. Der hatte Bildhauerei bei dem bekannten Dresdner Professor Ernst Hähnel studiert, von dem das Reiterstandbild des Völkerschlacht-Feldherrn Fürst Schwarzenberg in Wien stammt.1888 folgte der Achtzehnjährige dem Rat des Pädagogen und lernte das Kopieren nach Gips sowie Zeichnen. Bald trug er ständig ein Skizzenbuch in seiner Jackentasche und hielt Szenen des täglichen Lebens fest. Thiele plädierte für ein Studium an der Königlichen Akademie der bildenden Künste in Dresden.
Robert Diez, der Nachfolger Hähnels, nahm Barlach 1892 im zweiten Studienjahr als Meisterschüler auf. Im autobiographischen Rückblick erinnerte dieser sich an den Lehrer: „Mir gönnte er manches väterlich ermunternde Wort, weniger vor den Atelierleistungen als beim Durchblättern der Büchlein mit den Beweisen meines Privatfleißes auf der Straße, in der Kneipe, mit den Zeugnissen meiner Besessenheit, aus allen Zwischensituationen und den ungebräuchlichsten Blickwinkeln Darstellbares, wenn es nicht anders ging, zu erpressen.“ Diese Skizzenbücher gehörten zum Leben des Künstlers, viele blieben im Nachlass erhalten. Als akademische Abschlussarbeit modellierte Barlach 1894 die Plastik „Krautpflückerin“.
Seit Hamburger Schulzeiten bestand eine enge Freundschaft zu Carl Garbers, der ebenfalls von der Bildhauerei gefesselt war. Beide pflegten diese in Berlin weiter und führten ein Bohèmeleben. Als der Freund ein Stipendium für Paris erhielt und sein Lehrer Diez auch ihm eine solche Reise empfahl, entschloss sich Barlach nach einem Blick auf die Reste der väterlichen Erbschaft dazu. Im Mai 1895 zogen die jungen Künstler los. Studien an der angesehenen privaten Académie Rodolphe Julian, die auch Käthe Kollwitz und Emil Nolde besuchten, füllten den nach seinem künstlerischen Weg suchenden Barlach allerdings nicht aus. Ihn zog es in das „Geklüft des Louvre, das mich tage-, wochen-, monatelang behielt“, erinnerte er sich später. Sein Geld wurde knapp. Mit Zeichnungen für die „Fliegenden Blätter“, dem humoristisch-satirischen Wochenblatt in München, suchte Barlach die schmale Kasse aufzubessern, für sich selbst unternahm er erste schriftstellerische Anläufe.
Nach einem Jahr kehrte der inzwischen Sechsundzwanzigjährige nach Deutschland zurück und kam bei seiner Mutter unter, die sich inzwischen in Friedrichroda in Thüringen niedergelassen hatte. 1897 holte Garbers den Freund wieder für vier Monate nach Paris, um mit ihm gegen Honorar an einer Figurengruppe mitzuarbeiten. Danach begann für Barlach eine unstete Zeit. Von der Seine zog er an die Elbe. Mit seinem Studienkollegen bekam er ein paar kleine Aufträge, darunter die Giebelgestaltung des Rathauses in Altona. 1899 folgte der Umzug nach Berlin, wo der Arztsohn bildhauerisch an einer Grabanlage arbeitete und auch Freundschaft mit dem Verleger Reinhard Piper schloss, die bis zum Lebensende dauern sollte. 1901 war er wieder in Hamburg, im Jahr darauf ließ er sich in seiner Geburtsstadt Wedel nieder und richtete ein Atelier ein. Hier schuf er kleine Gebrauchskeramiken für die Töpferwerkstatt seines Schulfreundes Richard Mutz und schrieb.
1904 erhielt Barlach einen Lehrauftrag für Zeichnen, Malen und Modellieren an der Königlich Keramischen Fachschule in Höhr im Westerwald, wo er vom Oktober bis zum April des folgenden Jahres unterrichtete und dann nach Berlin übersiedelte. „Wie mich das Amt anödet, kann ich gar nicht genug sagen“, schrieb er seinem Schulfreund Friedrich Düsel. Der künstlerische Durchbruch wollte sich in dieser Zeit nicht einstellen, Selbstzweifel und Depressionen plagten ihn, er durchlebte eine schwere persönliche und berufliche Krise, aus der ihn auch die amouröse Verbindung mit der zehn Jahre jüngeren Näherin Rosa Limona Schwab nicht retten konnte. Über diese Periode hielt er fest: „Ich wusste, dass ich in einer Hölle saß, und saß darin ringend um die tägliche Überwindung des Bewusstwerdens meiner ganzgänzlichen Überflüssigkeit…“
Bruder Nikolaus holte den Ältesten schließlich aus dem Tief. Er nahm ihn auf seine Kosten zu einer Reise in den Süden Russlands, in die heutige Ukraine, mit, wo Hans Barlach als Ingenieur in Charkow arbeitete. Acht Wochen, August und September 1906, ließ Barlach die Eindrücke der sozialen Gegensätze auf sich einwirken und kehrte verändert nach Deutschland zurück. „Übrigens war ich jetzt einige Monate im südlichen Rußland, habe da unendliche Anregung, sagen wir gleich: Offenbarungen empfangen. Hoffentlich gelingt es mir, in Zeichnungen und Plastik einiges zu gestalten“, schrieb er seinem Freund Reinhard Piper. Im Buch „Ein selbsterzähltes Leben“ drückte Barlach seine Empfindungen noch deutlicher aus. „Ich finde es überflüssig, mich gegen die Legende zu wehren, daß ich ‚erst durch Rußland‘ zum plastischen Ausdruck geführt sei – oder wie man sowas sonst formuliert hat. … Rußland gab mir seine Gestalten…“
Barlach brachte einen reichen Schatz an Impressionen mit nach Berlin, festgehalten in Hunderten von Zeichnungen, und begann sie in Plastiken umzusetzen. So konnte er schon 1907 im Frühjahrssalon der „Berliner Secession“ seine von Richard Mutz gebrannten Terrakotten „Russische Bettlerin mit Schale“ und „Blinder russischer Bettler“ ausstellen. Als literarisches Ergebnis der Reise entstand das „Russische Tagebuch“. In der Kunstwelt erregte der bislang unbekannte Bildhauer Aufmerksamkeit. Der Tierbildhauer August Gaul nahm sich seiner an, ermunterte ihn zu Arbeiten mit Holz und stellte den Kontakt mit dem Verleger und Kunsthändler Paul Cassirer her, einem prominenten Förderer der Moderne. Dieser bot Barlach einen Vertrag über die künstlerische Vermarktung von Plastiken und Literatur an und zahlte ihm ein festes Jahresgehalt. Dieses Abkommen sollte seine finanzielle Basis sichern und ihn von den bisherigen ständigen Geldsorgen befreien. Der bislang Erfolglose nahm an und stürzte sich in die Arbeit. „Er (Cassirer) trieb meine Lämmer auf die Weide, meine erbärmlich frierenden plastischen Erstlinge…“, notierte Barlach in seiner Autobiographie.
1908 konnte Barlach an der Ausstellung der „Berliner Secession“, der er inzwischen beigetreten war, schon sieben Plastiken und 20 Zeichnungen zeigen. Er beeindruckte Kollegen wie Max Liebermann, die ihn förderten. Eine erste große Auszeichnung kam mit dem von dem Bildhauer und Maler Max Klinger gestifteten Preis „Villa Romana“, der mit einem Arbeits- und Studienaufenthalt für gut neun Monate in Florenz verbunden war. Die Stadt am Arno zog viele Künstler jener Zeit an. Hier lernte Barlach im deutschen „Café Reininghaus“ den – wie er ihn beschrieb – „tanzbärenartigen“ Schriftsteller Theodor Däubler (Versepos „Das Nordlicht“) kennen. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den Männern. Der Dichter erschloss dem Bildhauer Kunstwerke und Landschaften der Toskana, der ständig nach seinen Skizzenbüchern griff und die Menschen in ihrem Alltag auf Papier bannte.
Ein privater Schatten lag auf dem Erfolg des Künstlers. Rosa Schwab hatte im Sommer 1906 Barlachs unehelichen Sohn Klaus geboren. Dem Vater missfiel der lockere Lebensstil der Frau, von der er sich noch vor der Russland-Reise getrennt hatte. Nach seiner Rückkehr aus Florenz nach Berlin entbrannte ein heftiger Streit um das Sorgerecht, das die Richter schließlich 1908 dem Vater zusprachen. Alleinerziehend und Künstler – dieses Bild passte nicht in die Zeit. Überdies schränkte die Situation sein Schaffen ein. So gab er das Kind in die Obhut von Mutter Luise, die jetzt mit seinem Bruder Nikolaus in Güstrow lebte. 1910 ließ er sich ebenfalls in der Stadt nieder. Für seine Arbeiten mietete er eine Werkstatt. Eine passende Ehefrau war jedoch weit und breit nicht in Sicht.
Die künstlerische Unfruchtbarkeit gehörte der Vergangenheit an. Werk um Werk der bildenden Kunst entstand, der Bildhauer zeichnete und schrieb. Aus Holz, Keramik, Bronze, Stucco und Steinguss formte er seine Figuren wie den „Berserker“, eine „Sitzende Alte“ oder drei „Singende Frauen“. „Barlach leidet mit den Wesen, er will besonders ihre Würdigkeit, in Kümmernis, des Menschen Demut und Gottergebenheit finden und darstellen“, beobachtete der Freund Theodor Däubler. Die Arbeiten waren auf ausgewählten Ausstellungen wie der der Vereinigung westdeutscher Künstler und Kunstfreunde „Sonderbund“ zu sehen und fanden Käufer.
Mit Cassirer und dessen Frau, der österreichischen Schauspielerin Tilla Durieux, reiste er nach Holland und studierte in Museen die Kunst der Alten Meister. Der Verleger veröffentlichte 1912 Barlachs 1907 begonnenes erstes Drama „Der tote Tag“ mit 27 Lithographien, das sieben Jahre später seine Uraufführung in Leipzig erlebte.
Der Beginn des Ersten Weltkriegs versetzte Barlach wie Millionen Deutsche in Euphorie und Hurra-Patriotismus. Er verherrlichte ihn in Lithographien wie „Der heilige Krieg“ und „Erst Sieg dann Frieden“, die 1914 in Cassirers Kunstflugblättern „Kriegszeit“ erschienen. Er engagierte sich im Kinderkriegshort von Güstrow. Im Dezember 1915 zog das Militär den schmächtigen Künstler als Landsturmsoldat ein und schickte ihn nach Sonderburg an die dänische Grenze. Freunde reagierten entsetzt, denn sie wussten um die Gesundheitsprobleme des inzwischen Fünfundvierzigjährigen Bescheid, der schon zu Akademiezeiten über Herzprobleme geklagt hatte und den jetzt auch Rheuma plagte. Der Bildhauer August Gaul und der Maler Max Liebermann erreichten bei der Heeresleitung nach drei Monaten seine Freistellung unter Hinweis auf die künstlerische Bedeutung für das Land, Barlach konnte nach Güstrow zurückkehren und seine Arbeiten fortsetzen. Über seine Kriegserfahrungen führte er sein „Güstrower Tagebuch“. Die Einstellung des Künstlers änderte sich grundlegend, je länger die Kämpfe an den Fronten dauerten und das Elend des Krieges auch die Heimat überzog. Er wurde Pazifist.
Die Situation in der gemeinsamen Wohnung mit der Mutter in Güstrow belastete den introvertierten Künstler, der sich eingeengt fühlte. Sohn Klaus war körperlich schwach und von Asthma geplagt. Das Zusammenleben mit der fünfundsiebzigjährigen Mutter, die schon in früheren Jahren unter Depressionen litt und stationär behandelt werden musste, erwies sich manchmal als unerträglich. Ärzte wiesen die Frau 1920 erneut in eine Klinik ein. Nach wenigen Tagen suchte sie den Freitod. Die lebenslang durchaus nicht ungetrübte Beziehung zur Mutter verarbeitete Barlach im Drama „Der Findling“ mit 20 Holzschnitten.
Barlach durchlebte nach dem Krieg eine fruchtbare Schaffensperiode mit vielen Ehrenbezeugungen. Die Preußische Akademie der Künste nahm ihn 1919 als Mitglied auf, für seine inzwischen an verschiedenen großen Theatern uraufgeführten Dramen erhielt er 1924 für das Drama „Die Sündflut“ den Kleist-Preis, die bedeutendste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik. Die Akademie der Bildenden Künste München verlieh ihm die Ehrenmitgliedschaft. Die Kunsthochschulen in Berlin, Dresden und Weimar boten ihm Professuren an, die er ebenso ablehnte wie die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Galerien ausgestellt. Die Auszeichnungen gipfelten 1933 mit der Verleihung der Friedensklasse des Ordens Pour le mèrite, der höchsten Ehrung für einen Künstler.
Im Alter von 54 Jahren schloss Ernst Barlach die schicksalhafte Bekanntschaft mit dem Bildhauer-Ehepaar Böhmer, das sich auseinandergelebt hatte und die Scheidung anstrebte. Zwischen der 17 Jahre jüngeren Frau Marga und dem kauzigen Künstler bahnte sich langsam eine Liebesbeziehung an, die bis zu seinem Lebensende währen sollte. Mit Bernhard Böhmer entwickelte er eine tiefe Freundschaft und zog in dessen Haus am Inselsee. Die drei bildeten eine kleine Künstlerkolonie. Als das von Barlach in Auftrag gegebene Atelierhaus in unmittelbarer Nähe fertig war, nutzte er nur die Arbeitsräume und wohnte weiter bei der Lebensgefährtin. Den neuen Wohnbereich konnte der inzwischen neu verheiratete Böhmer nutzen. Er ging Barlach bei schweren Arbeiten zur Hand und vermarktete seine Kunstwerke, nachdem Cassirer Anfang 1926 freiwillig aus dem Leben geschieden war.
Die Weimarer Regierung wollte der Toten des Ersten Weltkrieges durch das Aufstellen von Ehrenmalen gedenken und Barlach schien der geeignete Künstler für diese Großplastiken. Güstrow bestellte für seinen mittelalterlichen Dom eine lebensgroße Engelsfigur aus Bronze, den „Schwebenden“, die 1927 im Gewölbe eines Seitenschiffes aufgehängt wurde. „In den Engel ist mir das Gesicht von Käthe Kollwitz hineingekommen, ohne daß ich es mir vorgenommen hatte. Hätte ich sowas gewollt, wäre es wahrscheinlich mißglückt“, beschrieb der Künstler das Aussehen. Vor der Universitätskirche in Kiel erhob sich von 1928 an der „Geisteskämpfer“, ein kolossaler Engel mit aufgerichtetem Schwert auf einem Raubtier stehend. Der Dom zu Magdeburg erhielt im Jahr darauf eine mächtige Figurengruppe aus Eichenstämmen, eine 21 Meter hohe Stele vor dem Rathaus an der Kleinen Alster in Hamburg zeigte 1931 das Relief „Trauernde Mutter mit Kind“.
Zu dieser Zeit hatten bereits die ersten Angriffe auf Barlach aus reaktionären Kreisen wie dem Wehrverband ehemaliger Frontsoldaten „Stahlhelm“ eingesetzt. Ziel waren die Ehrenmale. In der aufgeheizten Atmosphäre der letzten Weimarer Republikjahre fehlte den nationalistischen Kräften zunehmend jedes Verständnis für moderne Kunst. Da verhallte auch das Urteil Max Liebermanns, eines der bedeutendsten deutschen Impressionisten, über den Meister aus Güstrow. „Barlachs Kunst, anknüpfend an die Meister der Gotik, weist in die Zukunft: Er wäre der Berufenste, der künstlerischen Jugend Führer und Förderer zu sein“, würdigte er als Präsident der Preußischen Akademie der Künste in Berlin seinen Kollegen zu dessen 60. Geburtstag, für den eine Ehrenausstellung veranstaltet wurde. Der Dramatiker Bertolt Brecht hat, in Verteidigung Barlachs gegen eine schwachsinnige Obrigkeit, gesagt: „Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir Deutschen gehabt haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aussage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschönigung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebenskraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meisterwerken.“
Die Rechtsnationalen kritisierten, dass es den Ehrenmalen „an Heroischen, an Soldatischem, an Vaterländischem“ fehle. Schnell machten – völlig unzutreffende – Beschimpfungen wie „Jude“ und „Kommunistenfreund“ die Runde. Noch war der neue Geist nicht beherrschend, Barlach konnte arbeiten und ausstellen. Er wehrte sich öffentlich gegen die Kampagne. „Wollt ihr die Toten ehren, so lasst sie in ihrem Bereich der Ruhe. Spickt nicht die Tragik ihres Schicksals mit fetter Pietät, gebt zu, dass sie waren, aber nicht sind, indem ihr das Andenken vom Zweckschwall säubert, und gönnt ihnen die Vollendung, deren sie teilhaftig wurden durch Letztgültigkeit, durch Eingehen ins Unwiederbringliche.“
Doch je mehr die braune Ideologie Deutschland überzog, gerieten die moderne Kunst und ihre Künstler in die Defensive. „Die frisch-geordnete Weltepoche bekommt mir nicht, mein Kahn sinkt und sinkt immer rapider … statt zu jauchzen, je wütender das ‚Heil‘ dröhnt, statt römische Armgesten zu vollziehen, ziehe ich den Hut in die Stirn. … Diese Art Welt braucht mich nicht, es geht auch ohne mich“, schrieb Barlach resigniert im April 1933 an seinen Freund Piper.
In Magdeburg drängten die Nazis auf die Entfernung des Ehrenmals aus dem Dom, das schließlich in die Nationalgalerie in Berlin gebracht wurde. Seit 1955 steht es wieder in dem Gotteshaus an der Elbe. In Kiel wurde der „Geisteskämpfer“ abgebaut, aus dem Dom in Güstrow verschwand „Der Schwebende“. Von der „Gemeinschaft der Heiligen“, 16 Fassadenfiguren für die Katharinenkirche in Lübeck, konnte Barlach gerade einmal zwei fertigstellen. Ehrenmale in Malchin und Stralsund kamen über eine Planung nicht hinaus. Aufträge und Zahlungen blieben aus. Geldsorgen stellten sich ein, doch am Verhungern, wie es hieß, war er nicht. Freunde halfen. So beauftragte ihn der Zigarettenfabrikant Herrmann F. Reemtsma 1934 mit der Vollendung der Figurengruppe „Fries der Lauschenden“, die der Berliner Großindustrielle Ludwig Katzenellenbogen vier Jahre zuvor für sein Haus bestellt hatte. Der Bildhauer musste aber nach zwei Jahren diese Arbeiten abbrechen, als ein Gericht den Tycoon wegen Wirtschaftsvergehen ins Gefängnis schickte. Größte persönliche Stütze aber waren ihm in den schwierigen Zeiten die Lebensgefährtin Marga und deren Ex-Mann Bernhard Böhmer, der von den Machthabern in Berlin als einer von nur vier Kunsthändlern in Deutschland die Genehmigung besaß, „Entartete Kunst“ aus Staatsbesitz ins Ausland zu verkaufen und so manches Werk in die richtigen Hände brachte.
„Das ist Destruktion, ungekonnte Mache. Scheußlich!“ So zeterte 1936 Propagandaminister Joseph Goebbels öffentlich über Barlachs Werke. Privat soll er aber solche besessen haben. Der Künstler klagte Ende des Jahres seinem Vetter Karl: „Ich bin fürchterlich in Verschiss in Nähe und Ferne.“ Es kam noch schlimmer. Theaterdirektoren verbannten auf Geheiß der Obrigkeit seine sieben Dramen von den deutschen Bühnen, Veröffentlichungen verschwanden aus dem Buchhandel, die Machthaber verbannten bildhauerische und graphische Werke als „Entartete Kunst“. 1937 wurden 371 Arbeiten aus Museen beschlagnahmt, der Bildhauer erhielt Ausstellungsverbot, doch er durfte weiter arbeiteten und schuf u. a. die Holzskulptur mit dem vielsagenden Titel „Das schlimme Jahr 1937“. Barlach musste die Preußische Akademie der Künste verlassen. Er zog sich völlig an den Inselsee zurück und verließ sein Zuhause nur noch selten. Hoffnungslosigkeit und ein sehr schlechter Gesundheitszustand verdunkelten die letzten Lebensmonate. „Sein“ Güstrow hatte sich von ihm, dem stets als gesellschaftlichen Außenseiter betrachteten und jetzt verfemten Künstler, abgewandt. Aus der Kunstszene Nazi-Deutschlands verschwand der Name Barlach.
Am frühen Abend des 24. Oktobers 1938 starb Barlach im Alter von 68 Jahren in einem Krankenhaus in Rostock an Herzversagen. Zu Trauerfeier kamen nur enge Freunde nach Güstrow, darunter Käthe Kollwitz, die den Verstorbenen auf dem Totenbett zeichnete. Die Beerdigung fand am 28. Oktober im Familiengrab auf dem Friedhof von Ratzeburg Friedhof statt, wie es der Künstler ausdrücklich gewünscht hatte.
Nach Barlachs Tod setzte sich seine Lebensgefährtin Marga Böhmer mit aller Kraft für die Erhaltung des umfangreichen künstlerischen Erbes ein. Als die Waffen schließlich schwiegen, suchte sie die Öffentlichkeit. Ihr Ziel: Eine Dauerausstellung mit den Werken Ernst Barlachs. Güstrow gehörte zur kommunistischen Welt und diese Art der Kunst widersprach dem staatlich verordneten „Sozialistischen Realismus“. In Jahren beharrlichen Bemühens konnte sie 1953 in der frisch renovierten Gertrudenkapelle in Güstrow das erste Barlach-Museum einrichten. Sie selbst bezog eine Wohnung im ausgebauten Dachgeschoss, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1969 lebte. Ironie der Geschichte: Die Nationalsozialisten hatten den spätgotischen Backsteinbau zu einer „Ahnenhalle“ gestaltet; jetzt sind die Plastiken des von ihnen so geschmähten Künstlers hier zu sehen und werden von der Stiftung betreut.
Ein besonderes Ereignis ging in die Annalen Güstrows ein. Im Dezember 1981 kam der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt anlässlich seines offiziellen DDR-Besuchs in die Barlach-Stadt, um den „Schwebenden“ im Dom an Ort und Stelle zu sehen. In der Kirche hing seit 1953 ein Nachguss, da die Nazis das Original als Rohstoff für ihre Rüstungsindustrie hatten einschmelzen lassen. Die Bewohner durften den Gast allerdings nicht begrüßen. Um stürmische Sympathiekundgebungen wie bei der Visite von Bundeskanzler Willy Brandt im März 1970 in Erfurt zu verhindern, schirmten Tausende von Sicherheitskräften den sozialdemokratischen Politiker ab.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands konnte der in Güstrow verbliebene Nachlass Ernst Barlachs im Atelierhaus und der Gertrudenkapelle aus öffentlichen Mitteln erhalten und dauerhaft zugänglich gemacht werden. Die zum 1. Januar 1994 gegründete Ernst Barlach Stiftung Güstrow übernahm die Bewahrung, Pflege und wissenschaftliche Aufarbeiten der etwa 300 Plastiken sowie der mehr 1000 Grafiken, Skizzen, Briefe und Manuskripte. Sie ist eine von zwanzig Institutionen in den neuen Bundesländern, die im Jahr 2002 in das „Blaubuch“ der Bundesregierung als „Kultureller Gedächtnisort mit besonderer nationaler Bedeutung“ aufgenommen wurden. Die beengten Sammlungsräume des Atelierhauses am Inselsee, wo der Künstler bis zu seinem Lebensende arbeitete, wurden anlässlich seines 60. Todestages um das moderne Ausstellungsforum erweitert. 2003 konnte das neue Graphikkabinett eröffnet werden. Barlach-Gedenkstätten mit ausgestellten Arbeiten des Künstlers gibt es auch in Hamburg, Ratzeburg und Wedel.
Ein Jahr nach Barlachs Tod würdigte der Schriftsteller Heinrich Mann den Bildhauer und Dichter, der zu den ganz großen deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts zählt: „Er hat Bühnen- und Bildwerke geschaffen, alle ausgezeichnet durch eine höhere Schlichtheit; nur der geprüfte, umgetriebene Geist erlangt sie zuletzt. Erdgebunden war niemand weniger als dieser Künstler, der dennoch gelernt hatte, die stummen Wesen um ihn her redend zu machen und den Unbewußten ihre innigste Gestalt zu geben.“
Horst Heinz Grimm
Im Tal der Weißen Elster im Vogtland, einer geografisch entlegenen Ecke Deutschlands, liegt eine außergewöhnlich bedeutsame druckgraphische Sammlung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Sie gilt unter Kennern als einmalig auf dem europäischen Kontinent. Es sind Arbeiten in der Technik der so genannten Schabkunst, eines dem Kupferstich verwandten Verfahrens, die eigentlich in England angesiedelt war und dort auch ihre Blütezeit erlebte. Die „Staatliche Bücher- und Kupferstichsammlung – Stiftung der Älteren Linie des Hauses Reuß“ im Sommerpalais in Greiz – verfügt über einen großen Fundus von Schabkunstporträts englischer Persönlichkeiten, übertroffen nur vom British Museum in London. Insgesamt besitzt das Museum etwas über 35.000 druckgraphische Arbeiten, davon einen international bedeutenden Bestand von 1.000 Blättern in Schabkunst. In einer Sonderabteilung, dem „Satiricum“, sind Karikaturen seit dem 16. Jahrhundert zu sehen. In der Bibliothek des Palais stehen 45.000 Bücher, darunter viele seltene und kostbare Ausgaben.
Es gehört zu den merkwürdigen Verläufen der Geschichte, wie dieser Kunstschatz nach Greiz kam, heute eine Kreisstadt mit etwa 23.000 Einwohnern im Südosten Thüringens nahe der Grenze zu Sachsen. Keine geringere als Prinzessin Elizabeth von Großbritannien und Irland, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, hatte die Kollektion jahrelang zusammengetragen. Sie, die sich später selbst meist nur Eliza nannte, kam am 22. Mai 1770 als siebentes von 15 Kindern des englischen Königs Georg III. (1738-1820) und dessen Frau Charlotte (1744-1818) in London zur Welt.
Die Mutter – sie stammte aus dem Herrscherhaus des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz – sorgte für frühen Unterricht auch in Zeichnen und Malen. Die Prinzessin fand an der Kunst großen Gefallen und begann noch im 18. Jahrhundert zu sammeln, allerdings fast nur Druckgraphiken. Ihr Vater interessierte sich für politische Zeitsatire und Spottblätter. Die Tochter, spitzen Bemerkungen durchaus nicht abgeneigt, begeisterte sich bald ebenfalls für Karikaturen und nahm sie in ihre Kollektion auf. Von 1795 an entwickelte sie eine wahre Sammlerleidenschaft; insgesamt dürfte sie etwa 15.000 Blätter – vor allem Schabkunst – auf ihrem Wohnsitz Schloss Windsor zusammengetragen haben. Sie sammelte Zeit ihres Lebens.
Die Schabkunst, auch Mezzotinto, Schwarzkunst oder Englische Manier genannt, entwickelte der Deutsche Ludwig von Siegen (1609-1680), der als Offizier in Diensten des Landgrafen von Hessen-Kassel stand . Es ist eine zeitaufwändige, dem Kupferstich verwandte Vervielfältigungstechnik im Tiefdruck, die eine sehr nuancierte Wiedergabe von Gemälden und Zeichnungen erlaubt. Zunächst muss in Handarbeit eine Kupferplatte mit den Werkzeugen Wiegestahl und gezahnten Rädern vollständig aufgeraut werden, bis eine Art Raster entsteht.
Etwa zwölf Stunden dauert es, bis ein Rohling vom Format eines halben Briefbogens entsprechend vorbereitet ist. Mit der Säurebehandlung (Aquatintaätzung) kann das Ergebnis etwas schneller erreicht werden. Ein Druck von dieser Vorlage wäre tiefschwarz. Mit Schabeisen und Polierstahl arbeitet der Künstler die gewünschten Helligkeitsstufen und Konturen heraus, um ein Bild zu erhalten. Die erste bekannte Schabkunst-Arbeit stammt aus dem Jahr 1644 und zeigt die Landgräfin Amelia Elisabeth von Hessen. Sie wird von Siegen zugeschrieben.
In Kontinentaleuropa fand diese Drucktechnik wenig Anklang. Englische Künstler dagegen machten sie schnell zur Domäne ihres Porträtschaffens. Häufig nahmen sie Gemälde als Vorlagen. Einer der Hauptmeister wurde Valentine Green (1739-1813), den König Georg III., der Vater Elizabeths, dann als Hof-Schabkünstler in seine Dienste nahm. Er reproduzierte zahlreiche Arbeiten von Joshua Reynolds (1723-1792), des erfolgreichsten Porträtmalers seiner Zeit in England, der besonders durch seine eleganten Darstellungen von Frauen bekannt ist. Der Maler nahm schon mit 17 Jahren Unterricht bei dem erfolgreichen englischen Porträtisten Thomas Hudson (1701-1779). Während eines längeren Aufenthalts in Italien studierte er die Arbeiten der Alten Meister, besonders des Hauptmeisters der Spätrenaissance Raffael (1483-1520) und Michelangelos (1475-1564), des Wegbereiters des Manierismus. In Flandern beeinflussten ihn die Gemälde des Barockmalers Peter Paul Rubens (1577-1640). Reynolds führte in England den so genannten Großen Stil in der Malerei ein. Bei seinen Porträts orientierte er sich am bedeutenden flämischen Bildnismaler Anthonis van Dyck (1599-1641).
Es gehörte im 18. Jahrhundert einfach zum guten Ton in der besseren englischen Gesellschaft, sich porträtieren zu lassen. Dafür saßen die Mitglieder des Adels, des Militärs und Künstler vor allem Reynolds Modell. Ihm werden mehr als 2.000 Arbeiten zugeschrieben, die meisten davon dienten später als Vorlagen für Arbeiten in Schabkunst. Die Porträtierten gaben diese Drucke in Auftrag, um sie (wie in der heutigen Zeit beispielsweise Fotos) verschenken zu können. So wurden die Blätter schnell begehrte Sammlungsobjekte. Zum Bestand in Greiz gehört auch ein 1773 geschaffenes Selbstbildnis des Künstlers, das Green später kopierte. Reynolds, für sein Schaffen in den Adelsstand erhoben, war vom König als Hofmaler berufen worden und gehört zu den Mitbegründern der Royal Academy of Arts, der Königlichen Kunstakademie. Er wurde 1768 ihr erster Präsident und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1792 in diesem Amt.
König Georg III. liebte Kunst und galt als großer Mäzen. Sein Interesse galt ebenfalls der Architektur, ein Gebiet, für das er seine Tochter Elizabeth begeistern konnte. Diese zeigte schon als Kind eine bemerkenswerte künstlerische Begabung. Sie zeichnete und beherrschte Dank ausgezeichneter Lehrer die Techniken der Radierung, des Aquarells, des Kupferstichs, der Schabkunst und der Lithographie. Eliza schenkte 1806 ihrer Mutter Charlotte eine selbst gefertigte Serie von Kupferstichen, signierte aber die Arbeiten nicht. Die Kunstausübung einer Prinzessin solle den privaten Rahmen nicht überschreiten, meinte sie. Sie kopierte Landschaften und Veduten. Auch Arbeiten zeitgenössischer Maler, die in Diensten des Hofes standen, nutzte sie als Vorlage. Zu ihnen gehörte vor allem Thomas Gainsborough (1727-1788), zusammen mit Reynolds Begründer der Königlichen Kunstakademie und Lieblingsmaler der Königin. Seine Stärke lag in Porträts und Landschaften.
Elizabeth blieb lange Jahre ohne Partner, denn bei der Suche nach einem Ehemann setzte das höfische Zeremoniell enge Grenzen. Bruder Edward zog schließlich die Fäden für eine Aufsehen erregende Verbindung. Seit dem Studium in Genf pflegte er enge Freundschaft zum künftigen Landgrafen von Hessen-Homburg, Friedrich Joseph. Dieser hatte sich der militärischen Laufbahn verschrieben und in den Befreiungskriegen als Oberbefehlshaber der österreichischen Südarmee mit 30.000 Mann dem Heer des Franzosenkaisers Napoleon herbe Verluste zugefügt. Ein arrangiertes erstes Treffen zwischen Eliza und „Fritz“, wie sie ihn fortan nannte, fand am 14. Februar 1818 in London statt. Schon am 7. April heiratete das Paar mit allem Pomp des Königshauses. Die mittelgroße untersetzte Prinzessin war inzwischen 48 Jahre, der korpulente künftige Landgraf drei Jahre älter.
Die feine Londoner Gesellschaft überschüttete den deutschen Bräutigam mit Häme und Gehässigkeiten. Auch die Königin schätzte ihren Schwiegersohn nicht besonders. Karikaturisten verspotteten das Paar. Verkörperte der Landgraf doch alles, was an der Themse damals gerade nicht in Mode war. Dort gab der Dandy Beau Brummell mit eleganter und höchst extravaganter Kleidung den Ton an. Mit dem ausschweifend und verschwenderisch lebenden Prinzregenten und späteren König Georg IV., einem Bruder der Prinzessin, verband ihn eine enge Freundschaft. Die Society mokierte sich über Friedrichs unzeitgemäßen Backenbart, sein plumpes Aussehen und das nicht standesgemäße Pfeiferauchen. „Deutscher Corporal“ lauteten abfällige Bemerkungen über ihn.
Es blieb an der Themse auch kein Geheimnis, dass die Landgrafschaft Hessen-Homburg mit ihren etwa 20.000 Einwohnern über nur wenige Einnahmen verfügte und unter den deutschen Staaten als bitter arm galt. England war schließlich eine reiche Weltmacht. So blühten bald Spekulationen über eine Mitgiftjagd des armen Adeligen vom Kontinent. Eliza beeindruckte all dies nicht, sie nahm für ihre Liebe den gesellschaftlichen Abstieg ohne Murren in Kauf. Mit ihrem Mann zog sie am 14. Juli 1818 unter dem Jubel der Bevölkerung in der bescheidenen Residenzstadt Homburg ein – und erlebte etwas, was mit Kulturschock am treffendsten zu beschreiben ist. Das Essen sei „scheußlich“, schrieb sie einer Freundin nach England, und es herrschten „außerordentlicher Schmutz und Dreck“. In London gab es zu dieser Zeit schon WCs, in der Residenzstadt nur Abtritte.
Als der regierende Landgraf Friedrich V. (1748-1820) starb, folgte ihm Sohn Friedrich VI. Joseph in der Regentschaft. Elizabeth übernahm alle Pflichten als Landesmutter. Sie sorgte für eine umfassende Sanierung und Modernisierung der Stadt und finanzierte die Arbeiten aus ihrer Privatschatulle. Als Jagdschlösschen entstand das Gotische Haus, heute ein Museum. Nur elf Jahre dauerte die kinderlose Ehe, dann starb 1829 überraschend der Mann der Prinzessin. Sie trauerte bis an ihr Lebensende um ihn. Während ihrer Ehe hatte sie stets künstlerisch gearbeitet. Ein Jahr nach dem Tod des Landgrafen vollendete sie ihr Prachtwerk, das in Buchmalerei entstandene Gebetbuch Königin Elizabeths I., die von 1558 bis 1603 regierte. Auf farbenprächtig illuminierten Seiten kopierte sie handschriftlich die Texte.
Eliza starb am 10. Januar 1840 in ihrer Wohnung in Frankfurt am Main an den Folgen eines Schlaganfalls. Als ihre Erben hatte sie testamentarisch das Haus Hessen-Homburg bestimmt. Zum persönlichen Besitz der Prinzessin gehörte die umfangreiche Bücher- und Kupferstichsammlung, die schließlich Elizas Nichte Caroline (1818-1872) zugesprochen erhielt, die mit Fürst Heinrich XX. Reuß älterer Linie (1794-1859) verheiratet war.
Es ist nicht uninteressant, einen tieferen Blick in die Geschichte des Hauses Reuß zu werfen, eines der ältesten Geschlechter des deutschen Kulturraums, das bedingt durch häufige Erbteilungen mit mehreren Linien herrschte. So gab es um das Jahr 1700 zehn Herrschaften. Alle männlichen Nachkommen des Geschlechts trugen von Anfang an den Vornamen Heinrich – angeblich zu Ehren des Staufer-Kaisers Heinrich VI. (1165-1197), der ihnen Ländereien im Reichsbesitz an der Elster zur Verwaltung übertragen und sie zu Vögten ernannt hatte.
In Greiz residierten die Grafen aus diesem Geschlecht seit 1306. Nach mehrfacher Erbteilung entstanden 1564 zwei reußische Linien: die jüngere Linie und die ältere Linie. Letztere teilte sich im gleichen Jahr in Obergreiz und Untergreiz – zwei Residenzschlösser in der Stadt erinnern noch heute an diese Ministaaterei. Nach dem Aussterben der Untergreizer Linie im Jahre 1768 folgte schließlich die Vereinigung zur Grafschaft Reuß älterer Linie, die 1778 unter Graf Heinrich XI. (1722-1800) zum Reichsfürstentum erhoben wurde. Der erste Fürst, der in Göttingen studiert und zwei Jahre durch Europa gereist war, liebte Kunst und sammelte Bücher.
Das kleine Fürstentum im Vogtland erlangte politisch zwar niemals Bedeutung, machte aber im 19. Jahrhundert immer wieder von sich reden, nicht zuletzt auch als Hochburg des orthodoxen Luthertums. Fürst Heinrich XX. (1794-1859) heiratete im Alter von 45 Jahren Elizabeths Nichte Caroline von Hessen-Homburg (1819-1872). Als er starb, übernahm sie bis 1867 die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn Heinrich XXII. (1846-1902). Die streng konservative Fürstin, Tochter eines kaiserlich-österreichischen Generalfeldzeugmeisters, machte keinen Hehl aus ihrer antipreußischen Einstellung. So stellte sie sich im Deutschen Krieg von 1866 um die Vorherrschaft im Reich demonstrativ an die Seite Österreichs. Im Friedensvertrag zwang Preußen dem Duodezstaat dann die Mitgliedschaft im Norddeutschen Bund auf. Das bedeutete den Verlust der außenpolitischen und militärischen Souveränität.
1871 wurde Greiz ein Bundesstaat im Deutschen Reich. Doch das Fürstenhaus meldete mehrfach gegen die kaiserlichen Entscheidungen Widerstand an. So stimmte es als einziges Land des Reiches 1900 im Bundesrat gegen die deutsche Militärintervention in China, die Wilhelm II. auf dem Höhepunkt des „Boxer-Aufstands“ verfügte. Von 1902 an herrschten Regenten der jüngeren Linie Reuß in Greiz, da der rechtmäßige Thronfolger wegen eines Unfalls behindert war. Bis 1918, als in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Monarchie in der Novemberrevolution zusammenbrach und nach Kaiser Wilhelm II. auch alle deutschen Fürsten abdanken mussten.
Im Oberen Schloss in Greiz, das sich auf einem Felskegel über der Stadt erhebt, lagerte in der Hofbibliothek weitgehend unbeachtet auch die umfangreiche Schabkunst-Sammlung der Prinzessin Elizabeth. Kaum jemand im Fürstenhaus hatte sich zuletzt um diesen künstlerisch und wissenschaftlich wertvollen Nachlass gekümmert. Im Gegenteil. Er diente dem Hof als Fundus für Geschenke an Freunde des Hauses. Als der mit der Sichtung beauftragte Kustos des Dresdner Kupferstichkabinetts, Hans-Wolfgang Singer, sich die Druckgraphiken und Bücher genauer ansah, erkannte er den kulturellen Wert. In Verhandlungen einigten sich 1921 das neue Land Thüringen und das Fürstenhaus Reuß schließlich darauf, die Sammlung als Stiftung in ein staatliches Museum einzubringen. Bedingung der bisherigen Besitzer: Der gesamte Bestand musste ungeteilt und dauernd in Greiz bleiben.
Als idealer Standort bot sich das fürstliche Sommerpalais an, das Heinrich XI. zwischen 1769 bis 1779 hatte errichten lassen. Die Fassade der Südseite erinnert an die französische Baukunst der damaligen Zeit, die Nordfront trägt Züge der italienischen Renaissance. „Maison de belle retraite“ – Haus der schönen Zuflucht – nannte der Bauherr das Schlösschen, das als repräsentativer Wohnsitz für die heißen Monate diente. Es verfügte außer standesgemäßen Wohnräumen über einen Festsaal und einen mit Stuckaturen und Flachreliefs verzierten Gartensaal, der im Winter als Orangerie genutzt wurde. Das Palais liegt am Rande eines sich über 45 Hektar erstreckenden Landschaftsparks im englischen Stil mit wertvollem Baumbestand und einem ausgedehnten See. Nach den politischen Umwälzungen der Jahres 1918 stand das Sommerschlösschen leer. Am 27. August 1922 wurde hier dann die „Staatliche Bücher- und Kupferstichsammlung – Stiftung der Älteren Linie des Hauses Reuß“ offiziell eröffnet. Singer sprach von einem „neuen Kunst-Mekka in Deutschland“. Während des Zweiten Weltkriegs musste das Haus schließen und wurde erst am 15. Januar 1950 wieder geöffnet.
Als künstlerischer Schwerpunkt in Greiz darf die Graphik-Sammlung angesehen werden, in der Arbeiten aller bekannten Drucktechniken enthalten sind. Die wertvollsten Stücke stammen aus dem Nachlass Elizabeths. Viele wurden im Laufe der Jahrzehnte bis zur Gründung des Museums jedoch von den Erben veräußert oder verschenkt. Dennoch gibt das Sommerpalais mit den vorhandenen Arbeiten einen repräsentativen Überblick über die Sammlertätigkeit der Prinzessin, die sich vor allem auf englische Druckgraphiken konzentrierte. Davon sind etwa 1.000 Blätter in Schabkunsttechnik erhalten. Etwa die Hälfte davon entstanden nach Bildnissen des Porträtmalers Joshua Reynolds, den die Königstochter wohl besonders schätzte und dem sie auch Modell saß. Durch ihr Erbe kam quasi ein Katalog der englischen Gesellschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nach Ostthüringen.
Elizabeth selbst dürfte früh mit eigenem künstlerischen Schaffen begonnen haben. Schon mit 14 Jahren schuf sie eine Kaltnadelradierung, die drei Bettlerfiguren darstellt. Gern kopierte sie, wie damals üblich, fremde Arbeiten. Auch nach ihrer Hochzeit und Übersiedlung in die Landgrafschaft setzte sie ihre sammlerische und künstlerische Tätigkeit fort. Arbeiten von ihr sind auch im Museum im Gotischen Haus in Bad Homburg vor der Höhe ausgestellt.
Elizabeth sammelte die Drucke, wie damals üblich, vorwiegend in Mappen und so genannten Klebebänden. Noch auf Schloss Windsor trug sie mit ihrer jüngeren Schwester Mary (1776-1857) Kupferstiche zur Geschichte Englands zusammen, die in Alben im Greizer Museum liegen. Die wissenschaftliche Bearbeitung des umfangreichen Bestandes ist noch längst nicht abgeschlossen. Und auch Teile der fürstlichen Kupferstichsammlung aus dem Oberen Schloss der Reußen warten auf fachliche Sichtung. Von dort kamen die meisten der etwa 7.000 Landkarten, von denen weit mehr als die Hälfte aus dem 16. bis 18. Jahrhundert stammen, ins Sommerpalais.
Dort lagert auch ein bibliophiler Schatz. Insgesamt sind es etwa 45.000 Bände; der historische Bestand davon umfasst 20.000 Bücher. Fast zwei Drittel wurden im 17. und 18. Jahrhundert gedruckt. Mehr als 6.000 Titel der reich verzierten und vergoldeten Lederbände sind in einer Schaubibliothek ausgestellt. Als besonders wertvoll gelten 350 Werke aus dem 16. Jahrhundert, darunter eine illuminierte Lutherbibel aus dem Jahr 1534 und die Basler Drucke mit Holzschnitten von Hans Holbein (1497-1543).
Mit der Illustration der frühen Bücher beauftragten die Verleger namhafte Kupferstecher ihrer Zeit. Dazu gehörte der Niederländer Theodor de Bry (1528-1598). Von ihm stammen die Zeichnungen in den „Reiseberichten aus der Neuen Welt“, die eindrucksvolle Szenen von der Entdeckung und Eroberung Amerikas sowie aus dem Indianerleben überliefern. Herausragend sind ferner die dritte Ausgabe des „Theatrum Europaeum“ des Frankfurter Kupferstechers und Verlegers Matthäus Merian (1593-1650), die 16 Bände der „Histoire générale des voyages“ aus der Mitte des 18. Jahrhunderts sowie weitere reich illustrierte Reiseschilderungen aus einer Zeit, in der nur wenige Menschen ihren Wohnort verließen. .
Stark vertreten ist in Greiz die französische Literatur mit Werken der Aufklärung und der Französischen Revolution, die das Fürstenhaus Reuß unmittelbar nach Erscheinen erworben hat. Zu dem reichen Bestand in französischer Sprache zählen wertvolle Gesamtausgaben der Dichter Molière (1622-1673) und Jean-Baptiste Racine (1639-1699) sowie des Staatsphilosophen Charles de Montesquieu (1689-1755).
Die Büchersammlung hat ihren Ursprung in der kleinen Bibliothek, die Graf Heinrich VI. (1649-1697) angelegt hat. Dieser Reuße kämpfte als General im Heer von Prinz Eugen gegen die Türken, die in der Schlacht von Zenta entscheidend geschlagen wurden und ihre Eroberung des christlichen Europas nicht mehr fortsetzen konnten. Ein halbes Jahrhundert etwa wurde dann der Bücherbestand kaum erweitert, bis eine entscheidende Wende eintrat. Der sehr gebildete und für seine Zeit weit gereiste Graf Heinrich XI. (1722-1800), der spätere erste Fürst des Hauses, sammelte konsequent seit 1747 durch gezielte Ankäufe. Die Nachfolger erweiterten die Bibliothek bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zwar auch, doch wohl nicht mit besonders ausgeprägter Begeisterung fürs Literarische.
Die Erbschaft der Prinzessin Elizabeth beinhaltete fast 3.000 Bücher, die aber nicht alle bis nach Greiz gelangten. Wertvolle Bände dienten als Geschenke für befreundete Häuser, 1863 wurden im Auktionshaus Sothebys mehr als 1.600 Titel aus dem Besitz Elizas versteigert. Von ihrer umfangreichen Erbschaft sind in Greiz gerade einmal 200 Bände, darunter einige Folianten, angekommen und erhalten geblieben. Darunter sind das „Stammbuch Oder Erzölung aller namhaffter unnd inn Teütschen Historien berümpter Fürsten, Graffen, unnd Herren Geschlechter“ von Andreas Hoppenrod, erschienen 1570 in Straßburg, die von Caspar Merian gestochenen 104 Tafeln von europäischen Städten, Burgen und Schlössen aus dem Jahr 1657 sowie prachtvoll illustrierte Bücher wie das Früchtebuch „Pomona Britannica“ von George Brookshaw (1751-1823) aus dem Jahr 1812. Es galt mit 90 farbigen Abbildungen in Aquatinta damals als botanisches Standardwerk und ist weltweit nur noch in wenigen Exemplaren erhalten. Im Jahr 2002 brachte der Taschen Verlag in Köln ein Reprint heraus.
Nach der Abdankung des Fürsten stand die Stiftung vor der Aufgabe einer Inventur. Der als Archivverwalter eingesetzte Historiker Friedrich Schneider (1887-1962) erkannte den Wert des Buchbestandes aus dem Schloss. Er setzte sich auch dafür ein, dass der Bestand des fürstlichen Gymnasiums Rutheneum von Gera nach Greiz kam. So sind im Sommerpalais die Kostbarkeiten aus drei Bibliotheken vereint.
Karikaturen erschienen bereits in der Antike. Mit der Einführung der Drucktechniken fanden Blätter zeitkritischen und satirischen Inhalts zunehmend Verbreitung. Ein Vorläufer der Moderne in dieser Kunstart war der Engländer William Hogarth (1697-1764) mit seiner herben zeitgenössischen Gesellschaftskritik. James Gillray (1757-1815), der vor allem die Exzesse der Französischen Revolution geißelte, und Thomas Rowlandson (1756-1827) setzten diese Tradition fort.
Prinzessin Elizabeth sammelte solche Arbeiten im großen Stil. Mit ihrer Hinterlassenschaft kamen sie nach Greiz. Auch der deutsche Hochadel hatte längst zu sammeln begonnen – doch nicht nur aus künstlerischem Interesse. So mancher Fürst ließ unliebsame Karikaturen aufkaufen und so die Verbreitung unterbinden.
Die Karikaturen aus der Hinterlassenschaft der Landgräfin gaben der Greizer Sammlung von Anfang an eine besondere Note. Auch aus dem Fürstenhaus selbst kamen wertvolle satirische Blätter, darunter Arbeiten des sozialkritischen französischen Zeichners und Malers Honoré Daumier (1808-1879). Ihm lag die beißende Kritik am Herrscher (dafür musste er sechs Monate ins Gefängnis) ebenso wie die Darstellung lächerlicher kleiner Szenen des Alltags. Bemerkenswert sind ebenfalls die deutschen Zeichnungen, die die politischen Zustände in der Zeit der Revolution von 1848 aufspießen. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts kamen Arbeiten des satirischen Klassikers Daniel Chodowiecki (1726-1801) nach Greiz, und nach der Wende erwarb die Staatliche Bücher- und Kupferstichsammlung weitere Blätter des englischen Hauptmeisters William Hogarth (1697-1764).
Schon in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte der damalige Museumsdirektor Werner Becker (1924-1984) gemeinsam mit Harald Kretzschmar (geb. 1931) den Plan, den bedeutenden historischen Bestand mit Karikaturen der Gegenwart in einer eigenen Abteilung zu verbinden. So eröffnete 1975 im Sommerpalais das „Satiricum“, das das Schaffen der ostdeutschen Karikaturisten und Pressezeichner in den Mittelpunkt stellte.
Etwa 10.000 Blätter kamen in dieser nationalen Sammlung bis 1990 zusammen, seither wird die Kollektion um Werke aus dem ganzen deutschsprachigen Raum erweitert. Zu den ausgestellten Arbeiten gehören auch so genannte Plastikaturen, humoristische Objekte wie beispielsweise eine Schreibmaschine mit der Tastenfolge B-L-A. Greiz erwarb sich noch zu DDR-Zeiten den Ruf einer „Hauptstadt der Karikatur“, den es erfolgreich verteidigte und weiter pflegt. Dazu findet seit 1994 regelmäßig die „Triennale für Karikatur, Cartoon und komische Zeichenkunst“ statt, die nächste im Jahr 2009.
Die Greizer Geschichte selbst verlief wenig spektakulär. Urkundlich wurde die Siedlung erstmals 1209 erwähnt, das Stadtrecht datiert aus dem Jahr 1359. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Residenzstadt zu einem Zentrum der Kammgarnweberei. Im Deutschen Krieg von 1866 besetzten preußische Truppen das kleine Fürstentum, das sich mit dem Gegner Österreich verbündet hatte. 1900 arbeiteten hier fast 11.000 Webstühle; der erste war 35 Jahre zuvor in Betrieb genommen worden. Wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung erhielt Greiz Mitte des 19. Jahrhunderts Gleisanschluss in nächstgelegene größere Städte. Als wichtiger Industriestandort zählte Greiz zu DDR-Zeiten etwa 36.000 Einwohner. Heute leben gut ein Viertel weniger Menschen hier.
Nicht nur Kunstliebhaber zieht es nach Greiz. Unter Eisenbahnfans hat die Stadt einen besonderen Ruf. Durch das Bergmassiv, auf dem das Obere Schloss liegt, verläuft der Tunnel der Elsterbahn – ein beliebtes Fotomotiv. Und ganz in der Nähe überspannt die weltweit größte Ziegelbrücke das Göltzschtal, ein Monument aus der Pionierzeit des Eisenbahnbaus in Deutschland im 19. Jahrhundert.
Mit umfangreichen Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten wurde das Sommerpalais in jüngster Zeit den Erfordernissen eines modernen Museum angepasst. Im lichtdurchfluteten Gartensaal und in der Beletage finden Sonderausstellungen zu bestimmten Themenbereichen der Sammlung statt, im ehemaligen fürstlichen Festsaal trifft man sich zu diversen kulturellen Veranstaltungen. Für Besucher öffnet das Museum außer am Montag zwischen 10.00 und 17.00 Uhr (im Winter bis 16.00 Uhr). Und die Aufsicht in den Schausälen ist nicht irritiert, wenn Betrachter vor den Karikaturen in helles Lachen ausbrechen.
Horst Heinz Grimm
Der moderne Bau scheint so gar nicht ins mittelalterliche Bild der vom Schlossberg mit Stiftskirche und den Fachwerkhäusern geprägten Altstadt Quedlinburgs zu passen. Hier im nördlichen Harzvorland lagert ein „Schatz“, der Kunstliebhaber in aller Welt begeistert: Mehr als 1000 Arbeiten des deutsch-amerikanischen Künstlers Lyonel Feininger besitzt die nach ihm benannte Galerie. Die einzigartige Sammlung gibt einen nahezu vollständigen Überblick über das in Deutschland entstandene druckgrafische Werk dieses bedeutenden Meisters der Klassischen Moderne. Eine große Anzahl an Aquarellen und Zeichnungen sowie einige Gemälde ergänzen den Bestand an Arbeiten Feiningers.
Die engagierte und nicht ungefährliche Privatinitiative eines seiner Freunde, des Quedlinburger Bürgers Dr. Hermann Klumpp (1902-1987), brachte einen Großteil der Werke des in die USA emigrierten Künstlers vor den Nationalsozialisten in Sicherheit, die die moderne Kunst bekämpften. Auch die Nachkriegswirren in der sowjetisch besetzten Mitte Deutschlands überstand die Sammlung unter diesem Schutz. Es sollte bis 1986 dauern, als die Galerie in Quedlinburg noch zu DDR-Zeiten eröffnen konnte. Heute gehört sie zur Stiftung Moritzburg in Halle an der Saale, dem Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt.
Feininger lebte von 1887 bis 1937 in Deutschland. Der Künstler, der selbst nie in Quedlinburg geweilt hat, liebte die malerischen Kleinstädte Mitteldeutschlands und fand hier jene Vorlagen, die sein Schaffen prägten. Er konzentrierte sich besonders auf die Umgebung von Weimar, der „Stadt meines Lebenswunders“, wie er es formulierte. Die in der Nähe liegenden thüringischen Dörfer rückten ins Zentrum seines Motivkatalogs. Beispielsweise die Dorfkirche im thüringischen Gelmeroda. Er zeichnete sie im Frühjahr des Jahres 1906 zum ersten Mal, zahlreiche weitere Darstellungen folgten.
Lyonel Feininger kam am 17. Juli 1871 in New York als Sohn eines deutschstämmigen Künstlerpaares zur Welt, dessen Eltern aus Baden in die USA eingewandert waren. Seine Mutter war Sängerin, sein Vater Violinvirtuose. Während die Solisten Konzertreisen nach Deutschland unternahmen, sollte der Junge in einer Bank in New Yorks Wall Street einen Beruf erlernen – er zeigte aber wenig Enthusiasmus. Bald ließen die Eltern ihn nachkommen. Der Vater plante für den musikalisch begabten 16-Jährigen Geigenunterricht. Er selbst hatte ihn in New York bereits mit neun Jahren auf diesem Instrument unterwiesen. Feininger Junior aber entschied sich anders und besuchte in der Hamburger Gewerbeschule die Zeichenklasse. Im Jahr darauf – 1888 – bestand er an der Königlichen Akademie in Berlin die Aufnahmeprüfung und studierte fortan in der deutschen Hauptstadt. Erste Honorare kassierte Feininger schon 1889 mit Karikaturen für die „Humoristischen Blätter“. Etwa 20 Jahre zeichnete er in diesem Genre, auch für US-Publikationen wie die „Chicago Sunday Tribune“. 1892/93 arbeitete Feininger mehrere Monate im Atelier des italienischen Bildhauers Filippo Colarossi in Paris. Zurück in Berlin schloss der fast ausgebildete Kunststudent Freundschaft mit dem Maler und Radierer Edmund Fürst (1874-1955) und heiratete 1901 dessen Schwester Clara, eine Pianistin. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor.
Als Feininger 1905 die verheiratete Malerin Julia Berg kennenlernte, die an der Kunstgewerbeschule in Weimar Druckgrafik studierte, verließ er seine Familie. Die neue Lebenspartnerin erschloss dem Karikaturisten nicht nur die Techniken der Radierung und Lithografie, sondern auch Feinheiten der Ölmalerei und des Malens nach der Natur. Julia begleitete ihn zu einem längeren Aufenthalt nach Paris, wo er im Atelier Colarossi seine Studien fortsetzte. Das Paar heiratete drei Jahre später während eines Besuchs in London. Aus der Ehe stammten die Söhne Andreas (1906), Laurence (1909) und Theodore Lucas, genannt „Lux“ (1910).
Der Künstler hatte inzwischen die ersten Druckgrafiken geschaffen und auch mit der Ölmalerei begonnen. Als erstes dieser Werke entstand 1907 in Paris der „Porzellanaffe auf farbigem Grund“. Diesem Stillleben folgten noch im selben Jahr Pleinair-Gemälde. Dem Holzschnitt widmete sich der Deutsch-Amerikaner relativ spät, dann aber mit bemerkenswerter Energie. In dem kurzen Zeitraum zwischen 1918 und 1920 entstanden mehr als 200 dieser Arbeiten. In den zwanziger Jahren aber erlangte die Aquarellmalerei zunehmend Bedeutung in seinem Schaffen. Die Lyonel-Feininger-Galerie kann eine beeindruckende Auswahl an Aquarellen ausstellen. Ebenso findet sich in Quedlinburg ein beträchtlicher Bestand an frühen Gemälden.
1909 schloss sich Feininger für vier Jahre der Berliner „Secession“ an, einer Abspaltung von Malern und Bildhauern unter Max Liebermann mit Stoßrichtung gegen den erstarrten akademischen Kunstbetrieb. Kurz darauf zeigte er in einer Ausstellung der „Secession“ seine Arbeiten. Der Sprung auf die internationale Kunstbühne gelang Feininger 1911, als er mit sechs Gemälden am „Salon des Indépendants“ in Paris teilnahm. Dabei lernte er den französischen Maler Robert Delaunay (1885-1941) und den Kubismus kennen. Die Begegnung mit dem Künstler, einem der Hauptwegbereiter der abstrakten Kunst, sollte fortan sein Schaffen beeinflussen. So entstand 1912 das Quedlinburger Bild „Vollersroda I“, mit dem er zu seiner typischen Bildsprache fand – einem poetisch-romantisch verklärten Kubismus. Klumpp bezeichnete später die Arbeit des Freundes einen „Markstein seiner ihm eigenen Schaffensart“. Feininger charakterisierte seinen Stil als „Prismaismus“, den er auf geometrischen Grundformen aufbaute, gleich, ob er die Motive aus Landschaften oder aus der Architektur bezog.
Die Freundschaft mit dem österreichischen Maler Alfred Kubin (1877-1959) führte zur Teilnahme Feiningers am „Ersten Deutschen Herbstsalon“ im Jahr 1913. In der Sturm-Galerie von Herwarth Walden in Berlin zeigte er fünf seiner Werke zusammen mit Arbeiten der Künstlergemeinschaft „Der Blaue Reiter“. Die Galerie wurde vier Jahre später Schauplatz der ersten großen Feininger-Einzelausstellung mit 45 Gemälden und 66 weiteren Werken.
Der politische Umbruch in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Sturz der Monarchie zeigte auch Auswirkungen auf die Kunstszene. Künstler, vor allem Expressionisten, die sich selbst als „radikal und revolutionär“ bezeichneten, schlossen sich zur „Novembergruppe“ zusammen. Auch Feininger gehörte diesem „Arbeitsrat für Kunst“ an. Als einer der Wortführer trat der Architekt Walter Gropius (1883-1969) auf, der den Geist der mittelalterlichen Bauhütten erneuern wollte und forderte, Architekten, Bildhauer und Maler müssten alle „zum Handwerk zurück“.
Seine Ideen setzte Gropius 1919 mit der Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar durch Zusammenlegung der ehemaligen Kunstakademie und der Kunstgewerbeschule um. Es sollte eine lebensnahe Ausbildungsstätte für alle Disziplinen sein. Gropius berief Feininger zu seinem ersten „Meister der Form“ und übertrug ihm die künstlerische Leitung der Druckwerkstätten. Die Titelseite des überschwänglich formulierten „Bauhaus-Manifests“ zierte sein Holzschnitt „Kathedrale“. Die Avantgarde der europäischen Kunst übernahm den Bauhaus-Gedanken.
Als die konservative Regierung Thüringens 1925 aus politischen Gründen der Akademie die notwendigen Finanzzuschüsse strich, fand sie in Dessau eine neue Heimstatt. Feininger folgte dem Bauhaus an die neue Wirkungsstätte und bezog auch eines der eigens errichteten Meisterhäuser, aus dem er 1933 von den Nazis vertrieben wurde. Von der Lehrtätigkeit ließ er sich allerdings befreien, um sich ganz der künstlerischen Arbeit widmen zu können. Mit Wassily Kandinsky (1866-1944), Alexej von Jawlensky (1864-1941) und Paul Klee (1879-1940) gründete der Deutsch-Amerikaner 1924 die Austellungsgemeinschaft „Die blaue Vier“, die ihre Werke schon im Jahr darauf in New York präsentierte.
Die historische Salinenstadt Halle an der Saale entwickelte sich in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem Zentrum der Klassischen Moderne. Arbeiten der bedeutendsten zeitgenössischen Expressionisten waren in der städtischen Galerie vertreten, die damals zu den führenden öffentlichen Sammlungen in Deutschland zählte. In der mittelalterlichen Palast- und Festungsanlage Moritzburg, der zwischen 1503 und 1541 prunkvollen Residenz der Erzbischöfe von Magdeburg, war das 1885 gegründete Museum für Kunst und Kunstgewerbe untergebracht. Auch Werke von Feininger hingen hier. Museumsdirektor Alois J. Schardt richtete dem Künstler zwischen 1929 und 1931 im Torturm der Moritzburg sogar ein Atelier ein. In der Saalestadt schuf der Bauhausmeister seine berühmten Halle-Bilder – elf Ölgemälde und fast 30 Zeichnungen. Er arbeitete dabei zum Teil nach Fotovorlagen.
Bis die Nationalsozialisten 1937 massiv ihren direkten Vernichtungsangriff auf die Moderne Kunst eröffneten, die sie als „entartet“ und „bolschewistisch“ bezeichneten, besaß das Museum in Halle damals die größte Feininger-Sammlung in Deutschland. Mehr etwa 250 Arbeiten des Deutsch-Amerikaners ließen die Machthaber aus der Moritzburg entfernen. In 41 deutschen Museen konfiszierten sie insgesamt etwa 17 000 Werke aller verfemten modernen Künstler. Die beschlagnahmten Werke wurden zerstört oder ins Ausland verkauft, um für den Hitler-Staat Devisen zu beschaffen. Feininger, der nie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, blieb im Nazi-Reich als US-Bürger in seiner persönlichen Sicherheit weitgehend ungefährdet, sein „entartetes“ Schaffen aber nicht. Der Deutsche Künstlerbund schloss ihn aus. Dieses Schicksal teilte er mit allen anderen Künstlern der Moderne.
Rassistische Anfeindungen richteten sich gegen seine Frau Julia, die jüdischer Abstammung war. Über die Situation in Deutschland schrieb Feininger in einem Brief: „Nie früher war es möglich gewesen, in solch einer Weise mit Menschen umzugehen.“ Er sah schließlich keine Zukunft mehr für sich und fasste den Entschluss, jenes Land zu verlassen, das Jahrzehnte der Mittelpunkt seines Lebens als Mensch und Künstler gewesen war. Seinem Sohn Lux teilte er schriftlich mit: „Ich fühle mich 25 Jahre jünger seit ich weiß, daß ich in ein Land gehe, wo Phantasie in der Kunst und Abstraktion nicht als absolutes Verbrechen gelten wie hier…“ Am 11. Juni 1937 reisten Lyonel und Julia Feininger mit dem Schiff von Hamburg nach New York. Er kehrte niemals wieder zurück.
Der künstlerische Start des in den USA überwiegend nur in Fachkreisen bekannten deutschen Malers gestaltete sich mühsam. Feininger, inzwischen 66 Jahre alt, musste das Erlebte der vergangenen Jahre erst einmal verkraften. So überrascht nicht, dass er erst im Herbst 1939 wieder zu malen begann und die Motive seiner Arbeiten anfangs thematisch noch eng mit Deutschland verbunden waren. Er konnte dazu auf die zahlreichen „Naturnotizen“, die vor Ort gezeichneten Ansichten seiner verlorenen Wahlheimat, zurückgreifen. Er hatte sie vor den Zugriffen gerettet und im Gepäck mitgebracht. Zu den ersten Aufträgen in der neuen
Heimat gehörten 1939 vier Wandbilder für die Weltaustellung in New York. Im Jahr darauf folgten Gemälde mit Motiven Manhattans. 1942 kaufte das Metropolitan Museum of Modern Art eines seiner Gelmeroda-Gemälde; den Durchbruch aber brachte 1944 eine Retrospektive mit 180 seiner Werke im New Yorker Museum of Modern Art. Von etwa 1950 an zeigten Museen weltweit in Sonderausstellungen sein OEuvre.
Die Nationalsozialisten hatten in deutschen Museen mehr als 400 Gemälde und Druckgrafiken Feiningers beschlagnahmt. Ein wesentlicher Teil der in Deutschland verbliebenen Arbeiten konnte jedoch gerettet werden. Dieses Verdienst kommt Hermann Klumpp zu. Der aus Quedlinburg stammende promovierte Jurist studierte 1929 bis 1932 am Bauhaus in Dessau und schloss mit Diplom ab. Aus dieser Zeit datiert die Freundschaft mit Feininger, die die Familien einschloss. Klumpp war ein eifriger Sammler moderner Kunst. Er veröffentlichte im Deutschen Kunstverlag in Berlin ein Buch unter dem Titel „Abstraktion in der Malerei“, in dem er gestützt auf Arbeiten von Feininger, Wassily Kandinsky und Paul Klee eine Theorie zur ungegenständlichen Kunst aufstellte.
Die Literatur stellt Feininger nicht nur als Maler, Radierer und Holzschneider vor. Die musikalische Begabung, wohl ein Vermächtnis seiner Eltern, kam immer wieder durch. Er spielte Geige, Klavier und Orgel und begann schließlich zu komponieren. In Orientierung an Johann Sebastian Bachs sachlichem Stil erarbeitete er Fugen für die Orgel – die erste von insgesamt zwölf erschien im Jahr 1921. Feininger schöpfte Inspirationen nicht nur aus der Musik, sondern auch aus der Literatur. So ließ er sich aus bestimmten Werken vorlesen, wenn er an der Staffelei stand und arbeitete.
Den Künstler zeichneten ebenfalls große handwerkliche Fähigkeiten aus. Als Beispiele dafür stehen die originalgetreuen Modelle der Segelboote, die er schon als Kind in New York baute und im See des Central Park erprobte. Auch in Deutschland, in den Ferien an der Ostsee, ließ er zum Vergnügen seiner Söhne die Miniaturschiffe fahren. In seinen Händen entstanden Modelle für Spielzeuge, darunter Eisenbahnzüge, die in Serie produziert werden sollten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzte die Pläne. Für die Kinder schnitzte er aus Holz seine „Stadt am Ende der Welt“, kleine windschiefe Häuser vergangener Zeiten, überragt von Kirchtürmen. Beispielhafte Einzelstücke sind ebenfalls im Quedlinburger Museum zu sehen. Menschen, die ihn kannten, beschrieben Feininger als sehr zurückhaltend und auch selbstkritisch. Diese Eigenschaften erklären wohl, weshalb der Künstler insgesamt nur vier Selbstbildnisse schuf. Eines aus dem Jahr 1910, das ihn mit Hut und Tonpfeife darstellt, leitet die vorliegende EDITION LOGIKA ein. Das frühe Werk gehört zum Bestand der Feininger-Galerie in Quedlinburg. Dass es überhaupt noch existiert, ist Hermann Klumpp zu verdanken. Er erinnerte sich später: „Dieses Bild wurde nie aufgehängt und Feininger hob es nur bis 1933 auf. Bei dem fluchtartigen Verlassen des Bauhauses in Dessau trennte er die Leinwand aus dem Rahmen, zerknüllte sie und warf sie zum Verbrennen weg. Glücklicherweise fiel sie mir dabei in die Hände.“ Der Sammler brachte das Bild und andere Arbeiten zusammen mit Julia Feininger unbemerkt nach Quedlinburg in Sicherheit.
Feininger starb am 13. Januar 1956 in New York. Er hinterließ fünf Kinder – zwei Töchter aus erster Ehe und drei Söhne mit Julia. Als sie gestorben war, trafen Mitte der siebziger Jahre bei Hermann Klumpp in Quedlinburg Rückgabeforderungen der Feininger-Erben ein. 1984 mussten nach einem langwierigen Prozess um die Besitzverhältnisse zwischen dem Feininger-Nachlass in den USA und Hermann Klumpp 49 Ölbilder an die Erben übergeben werden. Nach entsprechenden Umbauarbeiten an einem aus der Zeit um 1900 stammenden Museumsgebäude konnte die Lyonel-Feininger-Galerie schließlich noch zu Lebzeiten Hermann Klumpps am 17. Januar 1986 eröffnet werden. Die juristische Auseinandersetzung um die Hinterlassenschaft des Künstlers aber ging weiter, aus den USA trafen neue Forderungen ein. Die endgültige juristische Klärung der Eigentumsverhältnisse folgte schließlich 2007. In einem Vergleich wurde die Übergabe von gut 200 Papierarbeiten an die Feininger-Erben festgelegt, ohne dass dadurch Qualität und Substanz der Quedlinburger Sammlung empfindlich beeinträchtigt wurden. So steht einer weiteren Entwicklung der Galerie, der die Klumpp-Erben die Werke als Dauerleihgabe überlassen haben, nichts im Weg. Sie sieht ihre Aufgabe in Bewahrung, Pflege, Präsentation und wissenschaftlicher Aufarbeitung des Werks des bedeutenden Malers.
Die Lyonel-Feininger-Galerie, die 1997 ihr aktuelles Aussehen erhielt, zeigt heute auf etwa 450 Quadratmetern Fläche in vier Ausstellungssälen ebenfalls Werke anderer Künstler der Klassischen Moderne wie Paul Klee, Emil Nolde, Wassily Kandinsky und Karl Schmidt-Rottluff. Einige stammen aus der Sammlung Dr. Hermann Klumpp, andere wurden später erworben oder als Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt, etwa von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Dazu gehören auch zwei weitgehend vollständige lithographische Zyklen aus dem Spätwerk von Lovis Corinth (1858-1925).
Klassische Moderne und Mittelalter bilden in Quedlinburg eine einzigartige Symbiose. Die Stadt mit etwas mehr als 22.000 Einwohnern besitzt seit 1994 den Status eines UNESCO-Welterbes und nimmt in der deutschen Geschichte eine bedeutende Stellung ein. Der Legende nach soll hier der Sachsen-Herzog Heinrich 919 die Reichsinsignien angetragen bekommen haben, die ihn zum ersten deutschen König erhoben. Diese Szene hat sich angeblich an jener Stelle abgespielt, die heute als Straße Finkenherd heißt. Hier liegt die Lyonel-Feininger-Galerie. Der Ort Quedlinburg am Schnittpunkt von drei mittelalterlichen Handelswegen wurde zur Reichspfalz erhoben. Heinrich I. bestimmte ihn als seine Grablege. Die fast 1000 Jahre alte dreischiffige Stiftsbasilika St. Servatius auf dem Burgberg besitzt einen der wertvollsten Domschätze aus dem Mittelalter. Etwa 1200 Fachwerkhäuser aus allen Stilepochen – das älteste Haus stammt aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts – bilden eine historische Kulisse. Paradoxerweise führte Geldmangel dazu, dass dieses einzigartige Stadtensemble noch steht: Die DDR-Führung wollte in den sechziger Jahren die historische Altstadt abreißen und an ihrer Stelle sozialistische Plattenbauten errichten lassen, doch es fehlten zum Glück die notwendigen Finanzen.
Die Kleinstadt im Harzvorland, in der ein bedeutender Teil der künstlerischen Arbeiten aus Feiningers deutschen Jahren liegt, wäre für den Expressionisten eine nahezu unerschöpfliche Quelle für Motive gewesen. Wie es die alten thüringischen Dörfer waren, die seine Werke ebenso bestimmten wie Szenen an der Ostseeküste, wo er viele Sommer verbrachte.
Horst Heinz GrimmAls die konservative Regierung Thüringens 1925 aus politischen Gründen der Akademie die notwendigen Finanzzuschüsse strich, fand sie in Dessau eine neue Heimstatt. Feininger folgte dem Bauhaus an die neue Wirkungsstätte und bezog auch eines der eigens errichteten Meisterhäuser, aus dem er 1933 von den Nazis vertrieben wurde. Von der Lehrtätigkeit ließ er sich allerdings befreien, um sich ganz der künstlerischen Arbeit widmen zu können. Mit Wassily Kandinsky (1866-1944), Alexej von Jawlensky (1864-1941) und Paul Klee (1879-1940) gründete der Deutsch-Amerikaner 1924 die Austellungsgemeinschaft „Die blaue Vier“, die ihre Werke schon im Jahr darauf in New York präsentierte.
Die historische Salinenstadt Halle an der Saale entwickelte sich in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem Zentrum der Klassischen Moderne. Arbeiten der bedeutendsten zeitgenössischen Expressionisten waren in der städtischen Galerie vertreten, die damals zu den führenden öffentlichen Sammlungen in Deutschland zählte. In der mittelalterlichen Palast- und Festungsanlage Moritzburg, der zwischen 1503 und 1541 prunkvollen Residenz der Erzbischöfe von Magdeburg, war das 1885 gegründete Museum für Kunst und Kunstgewerbe untergebracht. Auch Werke von Feininger hingen hier. Museumsdirektor Alois J. Schardt richtete dem Künstler zwischen 1929 und 1931 im Torturm der Moritzburg sogar ein Atelier ein. In der Saalestadt schuf der Bauhausmeister seine berühmten Halle-Bilder – elf Ölgemälde und fast 30 Zeichnungen. Er arbeitete dabei zum Teil nach Fotovorlagen.
Bis die Nationalsozialisten 1937 massiv ihren direkten Vernichtungsangriff auf die Moderne Kunst eröffneten, die sie als „entartet“ und „bolschewistisch“ bezeichneten, besaß das Museum in Halle damals die größte Feininger-Sammlung in Deutschland. Mehr etwa 250 Arbeiten des Deutsch-Amerikaners ließen die Machthaber aus der Moritzburg entfernen. In 41 deutschen Museen konfiszierten sie insgesamt etwa 17 000 Werke aller verfemten modernen Künstler. Die beschlagnahmten Werke wurden zerstört oder ins Ausland verkauft, um für den Hitler-Staat Devisen zu beschaffen. Feininger, der nie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, blieb im Nazi-Reich als US-Bürger in seiner persönlichen Sicherheit weitgehend ungefährdet, sein „entartetes“ Schaffen aber nicht. Der Deutsche Künstlerbund schloss ihn aus. Dieses Schicksal teilte er mit allen anderen Künstlern der Moderne.
Rassistische Anfeindungen richteten sich gegen seine Frau Julia, die jüdischer Abstammung war. Über die Situation in Deutschland schrieb Feininger in einem Brief: „Nie früher war es möglich gewesen, in solch einer Weise mit Menschen umzugehen.“ Er sah schließlich keine Zukunft mehr für sich und fasste den Entschluss, jenes Land zu verlassen, das Jahrzehnte der Mittelpunkt seines Lebens als Mensch und Künstler gewesen war. Seinem Sohn Lux teilte er schriftlich mit: „Ich fühle mich 25 Jahre jünger seit ich weiß, daß ich in ein Land gehe, wo Phantasie in der Kunst und Abstraktion nicht als absolutes Verbrechen gelten wie hier…“ Am 11. Juni 1937 reisten Lyonel und Julia Feininger mit dem Schiff von Hamburg nach New York. Er kehrte niemals wieder zurück.
Der künstlerische Start des in den USA überwiegend nur in Fachkreisen bekannten deutschen Malers gestaltete sich mühsam. Feininger, inzwischen 66 Jahre alt, musste das Erlebte der vergangenen Jahre erst einmal verkraften. So überrascht nicht, dass er erst im Herbst 1939 wieder zu malen begann und die Motive seiner Arbeiten anfangs thematisch noch eng mit Deutschland verbunden waren. Er konnte dazu auf die zahlreichen „Naturnotizen“, die vor Ort gezeichneten Ansichten seiner verlorenen Wahlheimat, zurückgreifen. Er hatte sie vor den Zugriffen gerettet und im Gepäck mitgebracht. Zu den ersten Aufträgen in der neuen
Heimat gehörten 1939 vier Wandbilder für die Weltaustellung in New York. Im Jahr darauf folgten Gemälde mit Motiven Manhattans. 1942 kaufte das Metropolitan Museum of Modern Art eines seiner Gelmeroda-Gemälde; den Durchbruch aber brachte 1944 eine Retrospektive mit 180 seiner Werke im New Yorker Museum of Modern Art. Von etwa 1950 an zeigten Museen weltweit in Sonderausstellungen sein OEuvre.
Die Nationalsozialisten hatten in deutschen Museen mehr als 400 Gemälde und Druckgrafiken Feiningers beschlagnahmt. Ein wesentlicher Teil der in Deutschland verbliebenen Arbeiten konnte jedoch gerettet werden. Dieses Verdienst kommt Hermann Klumpp zu. Der aus Quedlinburg stammende promovierte Jurist studierte 1929 bis 1932 am Bauhaus in Dessau und schloss mit Diplom ab. Aus dieser Zeit datiert die Freundschaft mit Feininger, die die Familien einschloss. Klumpp war ein eifriger Sammler moderner Kunst. Er veröffentlichte im Deutschen Kunstverlag in Berlin ein Buch unter dem Titel „Abstraktion in der Malerei“, in dem er gestützt auf Arbeiten von Feininger, Wassily Kandinsky und Paul Klee eine Theorie zur ungegenständlichen Kunst aufstellte.
Die Literatur stellt Feininger nicht nur als Maler, Radierer und Holzschneider vor. Die musikalische Begabung, wohl ein Vermächtnis seiner Eltern, kam immer wieder durch. Er spielte Geige, Klavier und Orgel und begann schließlich zu komponieren. In Orientierung an Johann Sebastian Bachs sachlichem Stil erarbeitete er Fugen für die Orgel – die erste von insgesamt zwölf erschien im Jahr 1921. Feininger schöpfte Inspirationen nicht nur aus der Musik, sondern auch aus der Literatur. So ließ er sich aus bestimmten Werken vorlesen, wenn er an der Staffelei stand und arbeitete.
Den Künstler zeichneten ebenfalls große handwerkliche Fähigkeiten aus. Als Beispiele dafür stehen die originalgetreuen Modelle der Segelboote, die er schon als Kind in New York baute und im See des Central Park erprobte. Auch in Deutschland, in den Ferien an der Ostsee, ließ er zum Vergnügen seiner Söhne die Miniaturschiffe fahren. In seinen Händen entstanden Modelle für Spielzeuge, darunter Eisenbahnzüge, die in Serie produziert werden sollten. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzte die Pläne. Für die Kinder schnitzte er aus Holz seine „Stadt am Ende der Welt“, kleine windschiefe Häuser vergangener Zeiten, überragt von Kirchtürmen. Beispielhafte Einzelstücke sind ebenfalls im Quedlinburger Museum zu sehen. Menschen, die ihn kannten, beschrieben Feininger als sehr zurückhaltend und auch selbstkritisch. Diese Eigenschaften erklären wohl, weshalb der Künstler insgesamt nur vier Selbstbildnisse schuf. Eines aus dem Jahr 1910, das ihn mit Hut und Tonpfeife darstellt, leitet die vorliegende EDITION LOGIKA ein. Das frühe Werk gehört zum Bestand der Feininger-Galerie in Quedlinburg. Dass es überhaupt noch existiert, ist Hermann Klumpp zu verdanken. Er erinnerte sich später: „Dieses Bild wurde nie aufgehängt und Feininger hob es nur bis 1933 auf. Bei dem fluchtartigen Verlassen des Bauhauses in Dessau trennte er die Leinwand aus dem Rahmen, zerknüllte sie und warf sie zum Verbrennen weg. Glücklicherweise fiel sie mir dabei in die Hände.“ Der Sammler brachte das Bild und andere Arbeiten zusammen mit Julia Feininger unbemerkt nach Quedlinburg in Sicherheit.
Feininger starb am 13. Januar 1956 in New York. Er hinterließ fünf Kinder – zwei Töchter aus erster Ehe und drei Söhne mit Julia. Als sie gestorben war, trafen Mitte der siebziger Jahre bei Hermann Klumpp in Quedlinburg Rückgabeforderungen der Feininger-Erben ein. 1984 mussten nach einem langwierigen Prozess um die Besitzverhältnisse zwischen dem Feininger-Nachlass in den USA und Hermann Klumpp 49 Ölbilder an die Erben übergeben werden. Nach entsprechenden Umbauarbeiten an einem aus der Zeit um 1900 stammenden Museumsgebäude konnte die Lyonel-Feininger-Galerie schließlich noch zu Lebzeiten Hermann Klumpps am 17. Januar 1986 eröffnet werden. Die juristische Auseinandersetzung um die Hinterlassenschaft des Künstlers aber ging weiter, aus den USA trafen neue Forderungen ein. Die endgültige juristische Klärung der Eigentumsverhältnisse folgte schließlich 2007. In einem Vergleich wurde die Übergabe von gut 200 Papierarbeiten an die Feininger-Erben festgelegt, ohne dass dadurch Qualität und Substanz der Quedlinburger Sammlung empfindlich beeinträchtigt wurden. So steht einer weiteren Entwicklung der Galerie, der die Klumpp-Erben die Werke als Dauerleihgabe überlassen haben, nichts im Weg. Sie sieht ihre Aufgabe in Bewahrung, Pflege, Präsentation und wissenschaftlicher Aufarbeitung des Werks des bedeutenden Malers.
Die Lyonel-Feininger-Galerie, die 1997 ihr aktuelles Aussehen erhielt, zeigt heute auf etwa 450 Quadratmetern Fläche in vier Ausstellungssälen ebenfalls Werke anderer Künstler der Klassischen Moderne wie Paul Klee, Emil Nolde, Wassily Kandinsky und Karl Schmidt-Rottluff. Einige stammen aus der Sammlung Dr. Hermann Klumpp, andere wurden später erworben oder als Dauerleihgaben zur Verfügung gestellt, etwa von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Dazu gehören auch zwei weitgehend vollständige lithographische Zyklen aus dem Spätwerk von Lovis Corinth (1858-1925).
Klassische Moderne und Mittelalter bilden in Quedlinburg eine einzigartige Symbiose. Die Stadt mit etwas mehr als 22.000 Einwohnern besitzt seit 1994 den Status eines UNESCO-Welterbes und nimmt in der deutschen Geschichte eine bedeutende Stellung ein. Der Legende nach soll hier der Sachsen-Herzog Heinrich 919 die Reichsinsignien angetragen bekommen haben, die ihn zum ersten deutschen König erhoben. Diese Szene hat sich angeblich an jener Stelle abgespielt, die heute als Straße Finkenherd heißt. Hier liegt die Lyonel-Feininger-Galerie. Der Ort Quedlinburg am Schnittpunkt von drei mittelalterlichen Handelswegen wurde zur Reichspfalz erhoben. Heinrich I. bestimmte ihn als seine Grablege. Die fast 1000 Jahre alte dreischiffige Stiftsbasilika St. Servatius auf dem Burgberg besitzt einen der wertvollsten Domschätze aus dem Mittelalter. Etwa 1200 Fachwerkhäuser aus allen Stilepochen – das älteste Haus stammt aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts – bilden eine historische Kulisse. Paradoxerweise führte Geldmangel dazu, dass dieses einzigartige Stadtensemble noch steht: Die DDR-Führung wollte in den sechziger Jahren die historische Altstadt abreißen und an ihrer Stelle sozialistische Plattenbauten errichten lassen, doch es fehlten zum Glück die notwendigen Finanzen.
Die Kleinstadt im Harzvorland, in der ein bedeutender Teil der künstlerischen Arbeiten aus Feiningers deutschen Jahren liegt, wäre für den Expressionisten eine nahezu unerschöpfliche Quelle für Motive gewesen. Wie es die alten thüringischen Dörfer waren, die seine Werke ebenso bestimmten wie Szenen an der Ostseeküste, wo er viele Sommer verbrachte.
Horst Heinz Grimm
Ein prächtiger Festsaal mit Deckenfresken, Gemälden und Stuckarbeiten, elegant ausgestattete Salons und natürlich eine eigene Kunstsammlung – die Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt hinterließen der Nachwelt das imposante Barockschloss Heidecksburg. Die Anlage in Rudolstadt zählt zu den bedeutendsten in Thüringen, wo die zahlreichen Residenzen der zeitweise bis zu zwei Dutzend ehemaligen deutschen Kleinstaaten die Landschaft beherrschen. Die Schwarzburger zählten schon im Mittelalter zu den mächtigen Adelsgeschlechtern in Thüringen, die sich später nach einem ihrer Stammsitze, der Schwarzburg im Schwarzatal, so nannten. Von den Grafen von Weimar-Orlamünde erwarben sie 1340 die Rudolstädter Burganlage. Während des „Thüringer Grafenkriegs“ (1342-1346) gegen die Vorherrschaft des Hauses Wettin wurde sie zerstört. Nur noch Mauerreste in den Kellern des heutigen Schlosses erinnern an die Festung.
Die neuen Herrscher bauten die Burg wieder auf. Graf Albrecht VII. (1537-1605) wählte sie nach der Aufteilung der Schwarzburger Besitzungen 1571 unter vier Brüdern zu seiner Residenz. In der Folge des Teilungsvertrags von Ilm (heute Stadtilm) im Jahr 1599 entstanden schließlich die voneinander unabhängigen Grafschaften Schwarzburg-Rudolstadt am Rande des Thüringer Waldes und Schwarzburg-Sondershausen südlich des Harzes. Beide existierten bis zum Ende der Monarchie in Deutschland.
Nachdem im Jahre 1573 ein Großbrand den Wohntrakt zerstört hatte, ließen die Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt ein dreiflügeliges Schloss nach dem damals neuesten architektonischen Stand errichten. Durch die Bautätigkeit erlebte Rudolstadt einen Aufschwung. Die Holz- und Forstwirtschaft beispielsweise entwickelten sich zu einem wichtigen Faktor; eine gräfliche Waldordnung sollte den Raubbau verhindern. Im Dreißigjährigen Krieg fanden auf dem Territorium zwar keine bedeutenden Schlachten statt, doch durchziehende Truppen des katholischen Kaisers und des protestantischen Schwedenkönigs führten zur Stagnation und zum Zusammenbruch der Wirtschaft. Durch diplomatisches Taktieren verhinderten die Grafen eine Besetzung.
Der Neubeginn 1648 gestaltete sich schwierig. Nur langsam lief die Erzförderung in den kleinen Bergwerken wieder an. Ein bislang wenig beachtetes Gewerbe setzte sich durch: Der Olitätenhandel. Olitäten waren die aus den vielfältigen Kräutern des Waldes hergestellten Arzneien. Händler lieferten sie bis nach Holland und Ungarn. Kaiser Leopold I. (1640-1705) erhob die Schwarzburger 1697 in den Reichsfürstenstand. In Rudolstadt nahm Graf Albert Anton (1641-1710) diese Würde zunächst nicht an. Nach seiner vom Pietismus geprägten Auffassung fehlten die wirtschaftlichen Grundlagen für den vom Adel erwarteten Prunk. Seine Frau und er waren Anhänger dieser Reformationsbewegung des Protestantismus und unterstützten die Stiftung der „Fruchtbringenden Jesusgesellschaft“ (1676), die sich als christliche Erneuerungsbewegung verstand. Sie wandte sich auch gegen italienische und französische Kultureinflüsse.
Als Kaiser Joseph I. die Ernennung erneuerte, nahm der Graf sie an, trug aber den Titel nicht. Erst sein Sohn Ludwig Friedrich I. (1667-1718), der schon einige Jahre die Regierungsgeschäfte führte, entschied sich 1711 einige Monate nach dem Tod des Vaters für die Fürstenwürde. Er war kein Anhänger des Pietismus und führte, wie es der Stand verlangte, die höfische Prachtentfaltung ein.
Dabei orientierte sich Ludwig Friedrich I. am Vorbild des Schlosses Versailles, wo er als junger Mann vom französischen König Ludwig XIV., dem „Sonnenkönig“, empfangen worden war. Es erklangen fortan Konzerte auf der Heidecksburg, es fanden große Bälle statt. Der Rahmen der Veranstaltungen stand in keinem Verhältnis zur politischen Bedeutung des kleinen Fürstentums.
Die Hofhaltung verursachte enorme Kosten, und die Mittel wurden durch steigende Steuern aufgebracht. Dagegen wehrten sich die Bürger und Bauern von 1716 an mit gewaltlosem Widerstand und zivilem Ungehorsam. Sie wollten eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen. Die Juristen jedoch gaben nach 15 Jahren dem Fürsten Recht, der mit einer Amnestie dann das Vertrauen des Volkes wiederzugewinnen suchte. Das höfische Leben veränderte sich mit dem Tod von Ludwig Friedrich I. Sein Sohn Friedrich Anton (1692-1744) war als Erbprinz von den pietistisch orientierten Großeltern erzogen worden, was seine absolutistische Regentschaft prägte. An Festen nahm er nicht länger teil als es das Protokoll gebot. Er interessierte sich besonders für das Zeichnen und die Herstellung bunter Tinten.
Als der Westflügel des Schlosses aus dem späten 16. Jahrhundert 1735 infolge Fahrlässigkeit zum großen Teil ausbrannte, gab der Schwarzburger Fürst Friedrich Anton schnell den Auftrag für eine Anlage nach zeitgemäßem Standard. Dazu gehörten auch Gärten. Der Erbauer des Dresdner Zwingers, Matthäus Daniel Pöppelmann (1662-1736), sollte den Bau ausführen, doch er starb. Dessen Nachfolger Christoph Knöffel (1686-1752) begann 1737 mit den Arbeiten auf der Heidecksburg. Er hielt sich als Dresdner Oberlandesbaumeister aber nur selten in Rudolstadt auf.
Entsprechend verzögerten sich die Bauarbeiten, die zudem Mängel aufwiesen. So verpflichtete der Fürst 1743 schließlich den Landesbaumeister von Sachsen-Weimar, Gottfried Heinrich Krohne
(1703-1756), der sich für die Ausstattung im Stil des süddeutschen Rokoko entschied. Der neue „Fürstliche Baudirektor“ starb noch vor der Vollendung der Heidecksburg. Er hinterließ jedoch Anweisungen für eine exakte Bauausführung.
Als Jahr der Fertigstellung verzeichnen die Annalen 1786. Vor allem im Südflügel des Schlosses blieben Räume aus der Zeit vor 1735 erhalten, darunter das Spiegelkabinett aus dem frühen 18. Jahrhundert – es war eines der ersten in Mitteldeutschland – und das um 1590 entstandene Figurenportal, das bis jetzt Teil der Fassade des Nordflügels im Schlosshof ist.
Der zwölf Meter hohe Festsaal als prunkvoller Mittelpunkt des Schlosses, ist einer der bedeutendsten des Rokoko in Deutschland. Er wurde von 1983 bis 1993 sorgfältig restauriert. Nach Knöffels Entwurf sollte der Saal im Hauptgeschoss des Westflügels ursprünglich rechteckig sein, Krohne gab den Wänden leichte Wellenform und baute abgerundete Ecken mit Büffetnischen ein. Wenn die Öfen geheizt werden sollten, konnten die Diener das von eigens dafür konzipierten
Nebenräumen aus machen. Im oberen Teil entstanden Logen für die Hofgesellschaft. Der aus Österreich stammende Künstler Johann Lorenz Deisinger (1701-1788) malte im Sommer 1744 in nur vier Wochen das großflächige Deckenfresko mit dem Thema „Im Olymp versammelter Götterrat“. Die reich verzierten Stuckarbeiten schuf der aus Pozzalino in der Nähe Luganos stammende Künstler Jean Baptiste Pedrozzi (1710-1778) in Rekordzeit.
Links und rechts des Festsaals liegen zwei großzügige Appartements, die jeweils aus Vorzimmer, kleinem Saal und Kabinett mit Alkoven bestehen. Eines ist mit roten Seidentapeten ausgestattet, das andere besitzt eine grün gefasste Holzvertäfelung. Auch in diesen Räumen finden sich Stuckaturen, Deckengemälde, Wandbilder und Schnitzarbeiten. Man kann die Zimmerfluchten von einer Marmorgalerie aus getrennt betreten, die wiederum mit beiden großzügig gestalteten Treppenhäusern verbunden ist. Etwa 50 Jahre dauerten die gesamten Bauarbeiten, doch in den vollendeten Räumen fanden sofort Feste statt. Es galt, die Gäste zu bewirten und damit die Beziehungen zu anderen Höfen zu pflegen. Im Saal sind heute noch Konzerte als Sonderveranstaltung zu hören, die Prunkräume können von Besuchern besichtigt werden.
Der wissenschaftlich interessierte und künstlerisch begabte Fürst Johann Friedrich (1721-1767), der 1744 in der Regentschaft seinem Vater gefolgt war, unterhielt eine „Fürstliche Capelle“ mit zwei Dutzend Musikern. Er machte Rudolstadt kurzzeitig zu einem künstlerischen Zentrum. Auch Carl Philipp Emanuel Bach, der Kapellmeister Friedrichs des Großen, kam auf die Heidecksburg. Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) blieb der kleine Territorialstaat von Schlachten zwar verschont, doch der Durchzug und die Rast fremder Truppen belasteten die Kasse. Für Kunst gab es schließlich kaum noch Geld, das höfische Leben aber ging weiter. Rudolstadt zählte damals etwa 4.000 Einwohner, mehr als die Hälfte von ihnen waren Handwerker.
Es muss munter zugegangen sein auf Schloss Heidecksburg, denn das Hofmarschallamt des Fürsten erließ 1798 für die Feste eine strenge Saalordnung und erlaubte nur noch Gästen mit Einladung die Teilnahme. „Unser Zweck ist, den Saal möglichst reinlich zu halten, sondern auch abzustellen, daß nicht so viel Unsittlichkeit und Unfug auf den Galerien getrieben wird“, hieß es in einer schriftlichen Begründung.
Die Chronik des Schlosses verzeichnet viele prominente Zeitgenossen als Gäste der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt. Friedrich von Schiller gehörte dazu, dessen Schwiegermutter am Hof in Diensten stand. 1787 schrieb er nach einem Besuch in der Residenzstadt seinem Freund Körner in Dresden: „Die Gegend um Rudolstadt ist außerordentlich schön.“ Bei der Gelegenheit traf er zum ersten Mal mit seiner künftigen Frau Charlotte zusammen. Später lernte er hier Johann Wolfgang von Goethe kennen, der sich im Schloss Kochberg bei Charlotte von Stein aufhielt.
Während der Eroberungszüge des Franzosenkaisers Napoleon in Europa regierte auf der Heidecksburg eine Frau: Karoline Louise (1771-1854) übernahm 1807 nach dem Tod ihres Mannes Ludwig Friedrich II. die Regentschaft bis zur Volljährigkeit des Sohnes Friedrich Günther (1793-1867), der dann von 1814 an ohne großen Ehrgeiz sein Amt ausfüllte. Die Fürstin bestimmte so Zeit ihres Lebens die Politik entscheidend mit. Sie erlebte, wie die Franzosen ihr Gebiet unter Zwangsverwaltung stellten, obwohl es nicht mit Preußen verbündet war.
So folgte zwangsläufig der Beitritt zum Rheinbund, der Konförderation mit den mächtigen Franzosen. Karoline Louise verließ dieses zerbröckelnde Bündnis 1813 wieder und schloss sich der Allianz Preußen-Österreich-Rußland gegen Frankreich an. Bei der politischen Neuordnung Europas bestätigte der Wiener Kongress zwei Jahre später die Souveränität des Fürstentums, das mit seinen etwa 54.000 Einwohnern dem neu gebildeten Deutschen Bund beitrat. Damit fiel die Militärhoheit an die Führungsmacht Preußen.
Die Unruhen im Revolutionsjahr 1848 erfassten auch Rudolstadt, wo Bürger wie in anderen Staaten für mehr Freiheiten und den Abbau der Feudallasten demonstrierten. Fürst Friedrich Günther gab zunächst dem Druck nach, nahm die Zugeständnisse aber im Jahr darauf wieder zurück. Die nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen Lage gedrückte Stimmung in dem Duodezstaat führte zu einer Auswanderungswelle nach Amerika.
Ein wirtschaftlicher Aufschwung setzte erst in den „Gründerjahren“ nach der Proklamation des Deutschen Kaiserreiches 1871 ein. Doch vor der von Kanzler Otto von Bismarck (1815-1898) angestrebten Staatsgründung stand jedoch der Krieg. Prinz Günther Viktor (1852-1925), der von 1889 an letzte regierende Fürst auf der Heidecksburg, meldete sich freiwillig zum Militärdienst und zog gegen Frankreich. 1914 wurden die Deutschen wieder zu den Waffen gerufen, wieder stellte Schwarzburg-Rudolstadt Soldaten. Der Regent musste aus Gesundheitsgründen in seiner Residenz bleiben.
Die Prachtentfaltung im Schloss Heidecksburg stand in deutlichem Gegensatz zur politischen Bedeutung der Schwarzburger, die im Windschatten der Geschichte ihren kleinen Staat regierten. Mit geschickter Diplomatie sicherten die Herrscher ihre Souveränität, denn die Beziehungen zu den Wettinern blieben stets gespannt. Nur ein Mal, im Kampf um die deutsche Königskrone, machte das Geschlecht von sich reden. Graf Günther XXI. (13031349) war ein treuer Gefolgsmann des Kaisers Ludwig IV. – er regierte von 1314 bis 1347 – und sollte nach dem Willen der Wittelsbacher dessen Nachfolger werden. Kaisertreue wählten ihn 1349 bei Frankfurt am Main zum deutschen Gegenkönig. Im Machtkampf mit Karl IV, der seit Ende 1346 die römisch-deutsche Königskrone trug und mit Unterstützung des Papstes sowie mächtiger Kurfürsten die höchste Position im Reich anstrebte, unterlag der Schwarzburger in militärisch aussichtsloser Position, verzichtete und starb kurze Zeit darauf.
Günther Viktor von Schwarzburg dankte nach dem Zusammenbruch der Monarchie in Deutschland im November 1918 als letzter der deutschen Fürsten ab. Er hatte seit 1909 in Personalunion auch Schwarzburg-Sondershausen in Nordthüringen regiert, das ohne männlichen Nachkommen geblieben war. Seine Regentschaft beschränkte sich auf Repräsentation. Er konzentrierte schon früh auf seine Kunstsammlungen. Während des Studiums hörte er auch Vorlesungen über Kunstgeschichte und unternahm ausgedehnte Reisen, unter anderem nach Italien und Frankreich.
Kurz vor seinem Rücktritt hatte er sein beträchtliches Vermögen, darunter die Heidecksburg mit ihren Sammlungen, in die neu gegründete „Fürst-Günther-Stiftung“ eingebracht. Diese ging 1923 an das Land Thüringen. Um den denkmalpflegerischen Erhalt des ehemaligen Residenzschlosses kümmert sich seit 1994 die „Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten“. Sie hat ihren Sitz übrigens in einem Trakt des Schlosses ebenso wie das Thüringische Staatsarchiv Rudolstadt. Die reichen Sammlungen betreut das Thüringer Landesmuseum Heidecksburg.
Es gehörte seit dem 17. Jahrhundert zum Repräsentationsverständnis selbst der kleinen Höfe, Kunst und Kuriositäten zu sammeln. So legten die Fürsten auf der Heidecksburg ebenfalls ein „Raritätenkabinett“ an, das sie anderen adeligen Besuchern stolz zeigen konnten. Man darf die Sammlertätigkeiten unkoordiniert nennen. Erst nach der Abdankung Günther Viktors und der Gründung der Stiftung machten sich Verantwortliche Gedanken über eine museale Ordnung für den Bestand auf dem Schloss, der ja der Öffentlichkeit gezeigt werden sollte. Sie übertrugen dem Direktor des Landeslehrerseminars, Berthold Rein (1860-1943), diese Aufgabe.
Rein katalogisierte den Bestand, die politisch unsicheren Zeiten der Weimarer Republik, der nationalsozialisten Herrschaft und schließlich des Zweiten Weltkrieges ließen die Kunstwerke aber in Vergessenheit geraten. Schloss Heidecksburg wurde durch Kampfhandlungen glücklicherweise nicht zerstört. Erst Ende der vierziger Jahre begann wieder die museale Arbeit, die zu DDR-Zeiten vom Mangel an Finanzierung beeinträchtigt war. Dadurch verschlechterten sich beispielsweise die Bedingungen für die Gemäldegalerie dermaßen, dass diese 1992 geschlossen werden musste.
Nach umfangreichen Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten wurde sie im Jahr 2000 in den ehemaligen Wohnräumen der fürstlichen Familie wieder geöffnet. 100 Gemälde sind ständig hier ausgestellt, der restliche Bestand von etwa 900 Kunstwerken lagert in einem modernen Magazin. Arbeiten aus dem 18. und 19. Jahrhundert bilden Schwerpunkte der Sammlung. Dazu gehört Caspar David Friedrichs Gemälde „Morgennebel im Gebirge“ aus dem Jahre 1808, eines der wichtigsten Werke der deutschen Romantik. Stark vertreten sind ebenfalls die Rudolstädter Hofmaler, die im Dienst der Fürsten standen.
Die Graphische Sammlung besteht aus mehreren tausend Blättern, die wertvollsten stammen aus dem 16. Jahrhundert. Darunter sind Arbeiten von Albrecht Dürer. Den Grundstock legte der humanistisch erzogene Graf Albrecht VII. (1537-1605), der während seines Studiums in Italien Kunst schätzen gelernt hatte. Es ist anzunehmen, dass dem Brand auf der Heidecksburg im Jahr 1735 zahlreiche Graphiken zum Opfer fielen.
Um die Plastiksammlung kümmerte sich vor allem Fürst Ludwig Günther II. (1708-1790) besonders nach seinem Amtsantritt im Jahr 1767. Er erwarb vor allem Porträtabgüsse antiker und zeitgenössischer Persönlichkeiten, eine Tradition, die noch sein Enkel Fürst Ludwig Friedrich II. fortsetzte. Folgende Regenten engagierten sich dann nicht mehr so stark. Die Kunstwerke sind im Schloss in den einzelnen Sälen des Westflügels sowie den beiden Stockwerken im Südflügel ausgestellt. Sie stehen auch in der ursprünglich 1778 eingerichteten und erst 1992 in Anlehnung an die teilweise überlieferte Ausstattung des 18. Jahrhunderts rekonstruierten Schlossbibliothek, in deren Regalen eine historisch gewachsene Sammlung von etwa 6000 Büchern vom 16. bis zum 19. Jahrhundert lagert und die nach Voranmeldung geöffnet wird. Die Folianten stammen aus den verschiedenen Privatbibliotheken des Hauses Schwarzburg-Rudolstadt.
Die kunsthandwerklichen Sammlungen zeigen eine große Vielfalt an Objekten aus den Bereichen Keramik, Möbel, Glas, Porzellan sowie des täglichen Gebrauchs bei Hof. Dazu zählen prachtvolle Schlitten aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die vergnüglichen Ausfahrten in die Schneelandschaft dienten, sowie eine reich verzierte Eichenholz-Truhe aus den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts. Besonders interessant sind auch die Porzellane aus der Region wie das vor etwa 240 Jahren gefertigte Hoftafelservice der Volkstedter Manufaktur. Diese Sammlungen entstanden erst nach 1950, als Objekte aus verschiedenen lokalen Museen mit dem Bestand der Heidecksburg zusammengeführt wurden.
Einen Einblick in die „Rüstkammer“ eines kleinen deutschen Territorialstaates bietet das „Schwarzburger Zeughaus“ militärhistorisch interessierten Besucher der Heidecksburg. Die Waffensammlung ist in einer spätmittelalterlichen Gewölbehalle des Nordflügels zu sehen. Insgesamt besitzt das Museum etwa 4.000 Objekte, von denen viele noch restauriert werden müssen. Unter den sehenswerten ausgestellten Stücken ist beispielsweise der Harnischkragen des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf, den dieser 1632 als Führer des protestantischen Heeres in der Schlacht von Lützen gegen den kaiserlichen Feldherrn Albrecht Wallenstein trug. Der Monarch fiel bei den Kämpfen. Das Waffenlager der Schwarzburger wurde bereits 1453 urkundlich erwähnt. Im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) stellten die Grafen eigenes Militär in Dienst. 1743 rüsteten sie ein Infanterie-Regiment als Söldnertruppe aus, die Geld in die Fürstenkasse bringen sollte. Während der Napoleonischen Kriege und im anschließenden Befreiungskrieg kämpften Schwarzburger an der Seite der Truppen des jeweiligen Verbündeten. Im deutschen Bundesheer, das 1815 als Armee des Deutschen Bundes aufgestellt wurde, war das Fürstentum mit einem Militärkontingent vertreten.
Die regionalgeschichtliche Sammlung im Schloss zeigt den Bestand des 1950 aufgelösten Rudolstädter Altertumsmuseums auf, der das Leben des Bürgertums, der Handwerker und der Bauern im ehemaligen Fürstentum dokumentiert. Interessant ist eine so genannte Sensenwaffe aus dem Revolutionsjahr 1848; die Sense wurde entsprechend umfunktioniert und mit einem Haken versehen, so dass sie an eine Hellebarde erinnert. Gegenstände aus dem privaten Leben der Fürstenfamilie sind ebenfalls zu sehen. Eine Münzsammlung mit mehr als 1.500 Stücken vermittelt einen Überblick über die Entwicklung des Münzwesens in Schwarzburg-Rudolstadt.
Als „Fürstliches Naturalienkabinett“ entstand 1757 die naturhistorische Sammlung. Dieses älteste Naturmuseum in Thüringen befand sich bis 1918 in Stadtschloss der Schwarzburger. Gründer war Friedrich Karl (1736-1793), der als Prinz nach einem Reitunfall längere Zeit nicht ausgehen durfte und anfing, sich für Geologie zu begeistern. Notwendige wissenschaftliche Kenntnisse dazu vermittelte ihm sein Arzt Georg Christian Füchsel, der sich als Geologe bereits einen Namen gemacht hatte. Mit der Zeit wuchs die Sammlung und stieß auf das Interesse von Naturwissenschaftlern, die eigens zu Studien nach Rudolstadt kamen.
Mehr als 150.000 Objekte liegen in den Vitrinen. Zu ihnen gehört ein Kollier, das 1576 aus Gold der Region gefertigt wurde. Dieses „Goldkörbchen mit anhängendem Nugget“ wiegt 23,267 Gramm. Schon Graf Albrecht VII. besaß es. Die Sammlung und die Fachbibliothek von etwa 10.000 Bänden vermitteln einen Eindruck über die naturgeschichtliche Entwicklung in Thüringen. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten mit diesem Material werden seit 1998 in den „Rudolstädter Naturhistorischen Schriften“ veröffentlicht.
Horst Heinz Grimm
Im äußersten Nordosten Deutschlands, in der alten Hansestadt Greifswald, gibt es seit Mitte 2005 eine neue Attraktion für Kulturreisende: Das Pommersche Landesmuseum mit seiner Sammlung zur Erd- und Landesgeschichte der gesamten Region sowie einer beachtlichen Gemäldegalerie. Zwei markante weiße Gebäude im klassizistischen Stil, verbunden durch moderne Konstruktionen, sowie die Reste eines alten Sakralbaus signalisieren schon von außen, dass den Besucher hier keine verstaubten Exponate und nach Belieben geordnete Gemälde erwarten.
Großzügige Architektur und modernste Technik zeichnen die Ausstellungssäle aus. Dazu kommt ein ganz besonderer Aspekt: Das Museum pflegt enge Kontakte zu Polen, wo heute die östlichen Landstriche der Kulturlandschaft Pommern liegen, sowie zu Schweden, dessen Könige fast zwei Jahrhunderte über Teile des Landes herrschten. In diesem Sinn findet ein reger Kulturaustausch statt, darunter mit dem Kaschubischen Institut in Danzig (Gdansk) und dem Muzeum Narodowe in Stettin (Szczecin).
Die Einrichtung verdankt ihre Existenz den erfolgreichen Bemühungen engagierter Partner, Geschichte, Kultur und Kunst der Region wieder ins Blickfeld zu rücken. 1996 entstand die „Stiftung Pommersches Landesmuseum“, in der die Bundesrepublik Deutschland, die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, die Hansestadt Greifswald, die Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald, die Pommersche Landsmannschaft, die schwedische Botschaft und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz vertreten sind. Die Stadt Greifswald stellte sowohl die historischen Gebäude direkt im Zentrum als auch ihre Sammlungen zur Verfügung. Die Universität erklärte sich zu Leihgaben wie dem wertvollen Croy-Teppich bereit – gute Gründe für Greifswald als Standort für das etwa 20 Millionen Euro teure Museumsquartier, dem auch private Sammler Artefakte aus ihrem Besitz leihweise überließen.
Der Architekt Gregor Sunder-Plassmann aus Kappeln an der Schlei (Schleswig-Holstein) erhielt 1998 als Sieger eines Wettbewerbs den Auftrag zum Aus- und Umbau der vorhandenen Immobilien zu einem Museum. Schon zwei Jahre darauf eröffnete die Gemäldegalerie im so genannten Quistorp-Bau. Sie zeigt Werke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, darunter auch Bilder des in Greifswald geborenen Künstlers Caspar David Friedrich. Diese hingen ursprünglich in dem 1913 eingerichteten Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Stettin, das auf Betreiben an Kunst interessierter Bürger der Handelsstadt an der Oder-Mündung entstanden war. In diesen Sammlungsbestand schlugen die Aktionen der Nationalsozialisten gegen „Entartete Kunst“ schwere Lücken. Die Hitler-Partei ließ nach der Machtübernahme 1933 in allen Museen Werke moderner Künstler beschlagnahmen und zum großen Teil vernichten. Kurz vor Kriegsende wurden die verbliebenen Gemälde in den Westen ausgelagert und nach Stationen in Coburg seit 1971 im Schloss von Kiel gezeigt, ehe sie in Greifswald ihr jetziges Domizil fanden.
Das Gebäude der Galerie mit seiner strengen Fassade entstand 1793 als „Große Stadtschule“ auf den Fundamenten eines alten Franziskanerklosters und der dazugehörigen Kirche. Die Backsteine des abgerissenen Gotteshauses dienten beim Neubau als Material. Als Architekt zeichnete Johann Gottfried Quistorp (1755-1835), der heute in der Kunstgeschichte als Mentor fast aller bekannten Maler seiner Zeit aus Vorpommern erscheint. Bei ihm nahm auch Friedrich den ersten Unterricht; Quistorp war Akademischer Zeichenlehrer, ehe man ihn zum Universitätsbaumeister berief. Seine Werke blieben aber nur von regionaler Bedeutung.
Museologen richteten die Galerie mit mehr als 200 gezeigten Gemälden auf zwei Etagen ein. Auf der unteren Ebene sieht der Besucher Werke des Niederländers Frans Hals und ein manieristisches Historienbild des Italieners Andrea Michieli, genannt Vicentino, Arbeiten aus der Romantik, der klassizistischen Landschaftsmalerei und natürlich der „lokalen“ Maler wie C. D. Friedrich. Im oberen Stockwerk führt der Rundgang vorbei an Bildern des deutschen Biedermeier, an Ansichten Stettins und der Spätromantik. Schließlich folgt die Moderne mit Exponaten Vincent van Goghs, Max Lie bermanns, Max Pechsteins und anderen. Auch Bilder der im 20. Jahrhundert in Pommern tätigen Künstler sind zu sehen. Ein ausführliches Audioprogramm hilft dem Betrachter bei der Orientierung.
Die Ausstellung zeigt auch eines der Motive der Klosterruine Eldena, die Caspar David Friedrich zwischen 1790 und 1830 in insgesamt elf Versionen malte und die heute in verschiedenen nationalen und internationalen Galerien hängen. Das Bild aus dem Bestand des ehemaligen Greifswalder Stadtmuseums nennt sich „Ruine Eldena im Riesengebirge“, die der Maler in künstlerischer Freiheit dorthin versetzt hatte. Die Reste dieses Klosters am Stadtrand der Hansestadt markieren den Beginn der langen und teils turbulenten Geschichte Greifswalds.
Mönche des 1098 in Frankreich gegründeten ZisterzienserOrdens, die zur Christianisierung Pommerns in das Gebiet an der Mündung des Ryck gekommen waren, errichteten 1199 ihr Bollwerk des Glaubens. Im 13. Jahrhundert wuchs sechs Kilometer flussaufwärts eine Siedlung, das heutige Greifswald. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges wurden die verbliebenen Gebäude der ehemaligen Klosteranlage zerstört, als Truppen der Katholischen Liga die protestantische Stadt eroberten. Die Trümmer, hochwertige Backsteine, dienten dann bis etwa 1750 als „Steinbruch“ für andere Bauten. Die derzeitige Form der unter Denkmalschutz stehenden Ruine blieb seither praktisch unverändert. Die Bepflanzung des Geländes entwarf der Gartenarchitekt Peter Joseph Lenne (1789-1866), der auch die Gärten von Sanssouci anlegte.
Greifswald spielte bereits im Mittelalter eine hervorgehobene Rolle. Der Stadt wurde 1250 das so genannte Lübische Recht, das Stadtrecht nach dem Vorbild Lübecks, verliehen. Bereits knapp 50 Jahre darauf gehörte sie zu den Mitbegründern der Hanse. Wohlstand herrschte schon früh, wie die Anlage der Altstadt mit ihren drei mächtigen Kirchen aus dem 13. Jahrhundert erahnen lässt. 1456 gab Bürgermeister Heinrich Rubenow den Anstoß zur Gründung der zweitältesten Universität im Ostseeraum nach Rostock. Die Hochschule dort hatte 1437 wegen Unruhen den Betrieb vorübergehend in die nahe Stadt ausgelagert und sowohl den Ehrgeiz der Greifswalder Stände und Bürgerschaft geweckt, selbst über eine Stätte des Geistes und der Wissenschaften zu verfügen.
Die renommierte Universität – sie trägt den Namen des patriotischen deutschen Dichters Ernst Moritz Arndt (1769-1880), der mit einem Werk wesentliche Impulse zur Abschaffung der Leibeigenschaft gab – blickt auf eine Reihe prominenter Studenten zurück. Der pommersche Reformator Johannes Bugenhagen (1485-1558) und der Humanist Ulrich von Hutten (1488-1523) gehörten ebenso zu ihnen wie der Dichter Hermann Löns (1866-1914) sowie die Chirurgen Theodor Billroth (1829-1894) und Ferdinand Sauerbruch (1875-1951). Auch unter den Professoren finden sich große Namen: Der Physiker Johannes Stark (1874-1957) erhielt 1919 den Nobelpreis, der Mediziner Gerhard Domagk (1855-1964) bekam 1939 diese Auszeichnung für seine Forschungen.
Aus dem Fundus an Kunstschätzen der Hochschule zeigt das Museum in seiner landesgeschichtlichen Sammlung unter anderem den wertvollen Croy-Teppich, einen Gobelin, der mit seinen etwa 31 Quadratmetern eine ganze Wand einnimmt. Mitte des 16. Jahrhunderts in Stettin gefertigt, stellt er ein Bekenntnis zur Reformation mit Martin Luther als Oberhaupt der Kirche dar. Auftraggeber dieses Meisterwerks war Herzog Philipp I. von Pommern-Wolgast (1515-1560). In einer Vitrine sind die kunstvoll gearbeiteten Hoheitszeichen der Universität, das Ornat des Rektors mit Mantel, Zepter, Kette und Siegelring, ausgestellt, das heute noch bei feierlichen Anlässen benutzt wird. Das älteste Stück der Insignien stammt aus dem 15.Jahrhundert.
Für die landesgeschichtliche Sammlung stellte die Stadt Greifswald ein mit der Gemäldegalerie durch eine moderne Halle verbundenes weiteres Gebäude zur Verfügung. Erbaut 1845 als Alten- und Armenheim, besticht es durch seinen klassizistischen Stil. Es steht, wie der Quistorp-Bau, ebenfalls auf dem Gelände des einstigen Franziskanerklosters, zu dem die aus Backsteinen errichteten Kirche St. Peter und Paul gehörte. Nach der Einführung der Reformation kam für die Mönche das Ende; die letzten verließen 1557 Greifswald. Es begann der langsame Verfall der fortan profan genutzten Gebäude, bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Areal das städtische Altenheim errichtet wurde.
Der Rückblick auf 14 000 Jahre der Geschichte Pommerns ist auf über 800 Quadratmetern anschaulich, lebhaft und modern gestaltet; er gibt alle wichtigen Informationen. Auf eine Trennung nach Objektgruppen verzichteten die Wissenschaftler. Der Besucher erfährt beispielsweise vom Pommerschen Saurier. Arbeiter hatten 1963 in einer Tongrube bei Grimmen in einer 195 Millionen Jahre alten Kalksteinknolle Fossilien entdeckt, deren Bedeutung der Geologe Werner Ernst erkannte und entsprechend zuordnete. An die Anfange der Besiedlung erinnern ausgestellte Funde wie eine auf 3300 v. Chr. datierte steinzeitliche Felsgesteinaxt mit einer Länge von 17,5 Zentimetern. Exponate aus der Bronzezeit und der Eisenzeit runden das Bild ab. Aus den Zeiten der Völkerwanderung stammt ein fast zwei Kilogramm schwerer Goldring.
Westslawische Stämme besiedelten das Gebiet seit dem 7. Jahrhundert und nannten es „Po morje“ (Land am Meer). Daraus entstand Pommern, das die Oder ins westliche Vorpommern und das östliche Hinterpommern trennt. Kaiser Otto der Große (912-973) trieb die Christianisierung gegen Osten bis in diese Region vor, zunächst erfolglos. Erst 1128 schuf Bischof Otto von Bamberg (um 1060-1139) die Grundlagen für eine dauerhafte Christianisierung. Papst Clemens III. sprach diesen „Apostel der Pommern“ im Jahr 1189 heilig. Den ersten pommerschen Bischofssitz hatte Otto von Bamberg auf der Insel Wollin begründet. Auf Wollin soll sich auch die von Wikingern erbaute Handelsstadt Jumne, das legendäre Vineta, befunden haben, das der Sage nach im 11. Jahrhundert untergegangen ist und nach dem bis heute gesucht wird.
Die Besiedlung des schwach bevölkerten Landes mit Bürgern und Bauern aus deutschen Landen setzte im 13. Jahrhundert ein, Vertreibungen der Slawen sind nicht überliefert. Städte wie Stralsund und Greifswald orientierten sich an deutschem Recht und gründeten die Hanse. Mit dem Bau der mächtigen Backsteinkirchen wurde damals begonnen. Der Handel brachte Wohlstand.
Die 1517 eingeleitete Reformation zwang die katholische Geistlichkeit zum Rückzug aus Pommern. Als treibende Kraft trat der aus Wollin stammende Reformator Johannes Bugenhagen (1485-1558) auf, Luthers „Doctor Pomeranus“, der 1535 auch die Kirchenordnung für das Land aufstellte, die „Kerken Ordeninge des gantzen Pamerlandes“. Der Greifswalder Professor Joachim Stephani brachte die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 ein halbes Jahrhundert später auf die Formel „cuius regio, eius religio“ (Wer regiert, bestimmt den Glauben).
In der Politik bestimmten wechselhafte Machtverhältnisse und mehrere Landesteilungen bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) die Lage. Dann geriet das Land in die blutigen Kämpfe um die Vorherrschaft in Europa. Albrecht von Wallenstein, der Feldherr der Katholischen Liga, besetzte weite Teile Pommerns mit etwa 20 000 Soldaten. Schwedenkönig Gustav II. Adolf griff an der Seite der Protestantischen Union in den Krieg ein, als der Einfluss der Habsburger an der Ostsee zu groß zu werden drohte.
Der Westfälische Friede von 1648 brachte für Pommern eine politische Neuordnung. Vorpommern mit Stettin und Gebiete um die Oder-Mündung fielen an Schweden, Hinterpommern wurde Brandenburg-Preußen zugesprochen. Die drei Jahrzehnte Krieg hatten das Land schwer verwüstet. Weniger als die Hälfte der Bewohner waren am Leben geblieben. Aus dieser Zeit stammt das Lied „Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland, Pommerland ist abgebrannt.“ Während des Krieges war 1637 mit dem Tod von Herzog Bogislaw XIV. auch das seit dem 12. Jahrhundert bestehende Geschlecht der Greifen erloschen. Im Frieden von Stockholm musste Schweden dann 1720 Vorpommern bis auf den Norden mit Stralsund, Rügen und Greifswald an Preußen abtreten.
Die Kriegszüge des Franzosenkaisers Napoleon trafen auch Schwedisch-Pommern mit einer mehr jährigen Besetzung. Im preußischen Pommern tobten Kämpfe gegen die Eindringlinge. Auf dem Wiener Kongress 1815 erhielt Preußen schließlich auch die unter schwedischer Hoheit stehenden Gebiete und bildete die Provinz Pommern mit Stettin als Hauptstadt. Ein Nebenkriegsschauplatz dieses Krieges erlangte traurige Berühmtheit: Kolberg. Diese Festung widerstand im Jahr 1807 unter dem Kommando von General August Gneisenau (1760-1831) einer französischen Übermacht. Die Nazi-Propaganda verwertete dieses historische Ereignis in den letzten Kriegsmonaten als Vorlage für einen Film mit Durchhalteparolen. Das Museum in Greifswald beschränkt sich nicht darauf, nur an Hand von gut gewählten Exponaten die Geschichte darzustellen. Auch moderne Medien wurden eingesetzt. Holografische „Zeitzeugen“, darunter Herzöge und Bischöfe, berichten aus ihrer Zeit.
Ein genaues Bild Pommerns zu Beginn des 17. Jahrhunderts hat der Kartograph Eilhard Lubin im Auftrag des Herzogs Philipp II. von Pommern-Stettin festgehalten. Mit den einfachen Instrumenten Jacobsstab, Astrolabium und Höhenwinkelmesser fertigte er die Unterlagen für eine „Landtafel“, die 1618 als Kupferstich in zwölf Teilblättern erschien und zusammengesetzt die Größe von 217 mal 125 Zentimetern erreicht. Verzeichnet sind ebenfalls die Herzöge mit Name und Bild. Dieses kulturhistorisch bedeutende Werk über Pommern, die „Große Lubinsche Karte“, ist im Greifswalder Museum ausgestellt.
Das Pommersche Landesmuseum demonstriert auf anschauliche Weise die Entwicklung einer Kulturlandschaft, die in der Geschichte Deutschlands später große Bedeutung als Nahrungsmittelproduzent und Standort von Schwerindustrie erlangte. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel der größere Teil Westpreußens an Polen, Pommern wurde Grenzland. Die Teilung folgte mit dem Ende des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkriegs. Das Potsdamer Abkommen unterstellte die östlich der Oder gelegenen Gebiete polnischer Verwaltung, Vorpommern wurde zunächst dem Land Mecklenburg zugeschlagen, 1952 aber zur Löschung seiner Identität aufgeteilt. Erst mit der so genannten Wende bekam der Begriff Pommern wieder Bedeutung, die das Landesmuseum in Greifswald jetzt anschaulich illustriert.
Horst Heinz Grimm
Einst residierten Herzöge in den Gemächern des Barockschlosses der Kleinstadt Altenburg im äußersten Osten Thüringens – heute geben sich Hunderte von kleinen Königen mit ihrem Hofstaat ein öffentlich zugängliches „Stelldichein“. In den historischen Räumen zeigt nämlich das Spielkartenmuseum seine Schätze aus fünf Jahrhunderten. Es war kein Zufall, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Wahl auf Altenburg als Standort einer solchen bedeutenden Sammlung fiel. Hoch angesehene Bürger der Stadt hatten Anfang des 19. Jahrhunderts das Skatspiel erfunden, das sich schnell in ganz Deutschland ausbreitete. Außerdem produzierte hier die größte Spielkartenfabrik des Landes. Und das Schloss bot in einem sehr repräsentativen Rahmen genügend Platz für Schauvitrinen. Der herrschaftliche Besitz stand nach der politisch erzwungenen Abdankung des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Altenburg am 13. November 1918 leer.
Die Verantwortlichen Altenburgs sahen die verlassene Residenz als geeigneten Ort für ein Regionalmuseum. Da ergriffen auch Skatfreunde die Initiative, um den Spielkarten und ihrer Geschichte eine Gedenkstätte einzurichten. Julius Benndorf, leitender Redakteur der Monatszeitschrift „Der Alte“, und Carl Schneider, der Direktor der Spielkartenfabrik, sorgten für Konzept und Grundstock der Sammlung. Aus der Manufaktur ließen sie historisch interessante, aber im Industriebetrieb ausgediente Geräte und Druckformen sowie alte Kartenspiele ins Schloss schaffen. Der Altenburger Maler Otto Pech (Künstlername „Pix“) gestaltete in einem etwa 30 Quadratmeter großen Raum die Wände mit Figuren und Elementen aus dem Skatspiel und schuf so die „Skatheimat“.
Unter der Museumsdirektion Benndorfs entstand eine in Deutschland einmalige Sammlung von Spielkarten, darunter bedeutende kleingraphische Kunstwerke aus früheren Jahrhunderten. Dazu kam eine beeindruckende Fachbibliothek. Diese kunsthistorischen Dokumente der Zeitgeschichte überdauerten die Wirren des Zweiten Weltkriegs, der die Stadt 45 Kilometer südlich von Leipzig vor größeren Zerstörungen verschonte. Schwerwiegend aber waren die Kriegsfolgen. Die sowjetische Besatzungsmacht demontierte die Spielkartenfabrik und ließ Maschinen und sonstiges Zubehör als Reparationsleistungen abtransportieren. Bei der Aktion wurde auch gleich die Sammlung des Museums nahezu komplett eingepackt und weggeschafft. Diese Millionenwerte gelten bis heute als verschollen.
Die Altenburger wagten einen Neubeginn. Nicht im „Beutegut“ aufgegangene kleine Bestände sowie Schenkungen von Privatleuten ermöglichten den Aufbau eines neuen Museums, das 1950 erstmals seine bescheidenen Bestände zeigen konnte. Dazu zählte eine nachgebaute Kartenmacherwerkstatt mit einer Kupferdruckpresse aus Hartholz, die vermutlich schon um das Jahr 1600 der Spielkartenherstellung diente. In den folgenden Jahrzehnten konnte die Sammlung nicht wesentlich erweitert werden. Geld für Aufkäufe stand zu DDR-Zeiten praktisch nicht zur Verfügung. Kontakte zu Sammlern im „kapitalistischen Ausland“, die ihrerseits Exponate zur Verfügung stellen wollten, mussten aus politischen Gründen unterbleiben.
Erst nach Wende und Wiedervereinigung bekam das Museum wieder Aufschwung. In den inzwischen neu gestalteten Räumen können die Besucher eine Auswahl aus etwa 6000 Spielkarten (darunter auch Kopien und Nachdrucke) verschiedener Epochen, die Nachbildung einer typischen Kartenmacherwerkstatt sowie zahlreiche mit Kartenspielen verbundene Utensilien wie Tische, Spielmarken, besondere Gläser und Gemälde besichtigen. Auch als Standort der Spielkartenproduktion in Deutschland hat die Stadt ihre Bedeutung wieder erlangt. Jährlich bringt die hier angesiedelte Fabrik etwa 33 Millionen Spiele auf den Markt.
Altenburg, das noch im ersten Jahrtausend zum slawischen Siedlungsgebiet gehörte, blickt auf eine lange Geschichte zurück. Erstmals erschien der Name in einem Dokument des Jahres 976, als Kaiser Otto II. die Erschließung und Christianisierung im Osten seines Reiches betrieb. Der von dem Markgrafen errichtete Burgward erhob sich auf einem mächtigen, die Landschaft hoch überragenden Porphyrfelsen; hier wuchs im Laufe der Jahrhunderte das Schloss in seiner heutigen Form. Der älteste erhaltene Bauteil, ein wehrhafter romanischer Wohnturm, geht auf das Jahr 1080 zurück.
Den Kaisern diente Altenburg bald als Pfalz. Friedrich I. Barbarossa hielt sich hier von allen Herrschern am häufigsten auf. Insgesamt sechs Mal, vermerkt die Chronik. Er kam auch 1172 zur Weihung des Augustiner-Chorherren-Stiftes „Unserer lieben Frauen St. Marien“, an das heute nur noch die mächtigen, in ihrer Form unterschiedlichen Kirchtürme „Rote Spitzen“ erinnern, die zum Stadtwahrzeichen wurden. Blitzschlag und Feuer hatten das Gotteshaus aus Backstein 1588 zerstört.
Das Stadtrecht besaß Altenburg schon 1256, wie aus Urkunden hervorgeht. Der Marktplatz lag an wichtigen mittelalterlichen Handelswegen. 1307 fiel das Gebiet an die Wettiner und blieb bis 1918 im Besitz eines Zweiges dieser Dynastie. Die Fürstenresidenz, im Mittelalter zu einer wehrhaften, niemals eingenommenen Burg ausgebaut, war Schauplatz einer Aufsehen erregenden Entführung, die als „Sächsischer Prinzenraub“ in die Geschichte einging.
Den Anlass für die Tat gab ein Streit um materielle Entschädigung, Hauptakteur war Ritter Kunz von Kauffungen. Der Edelmann kämpfte an der Seite von Kurfürst Friedrich II. von Sachsen, der „Sanftmütige“ genannt, gegen Herzog Wilhelm III. In diesem Bruderkrieg zwischen 1446 bis 1451 ging es um territoriale Ansprüche. Ritter Kunz geriet dabei in Gefangenschaft und musste sich freikaufen. Sein Landbesitz einschließlich der Häuser hatte unter den Kriegswirren stark gelitten. Eine entsprechende Entschädigung aus der Schatulle des Kurfürsten schien ihm deshalb nur gerecht.
Friedrich der Sanftmütige aber dachte nicht an eine großzügige Lösung. So plante der Ritter die Entführung der Prinzen Ernst und Albrecht, Kinder im Alter von 14 und 12 Jahren, aus dem Schloss Altenburg. Mit Hilfe des als Küchenjungen beschäftigten Hans Schwalbe und mehrerer anderer Komplizen gelang ihm in der Nacht vom 7. zum 8. Juli 1455 das abenteuerliche Kidnapping aus den fürstlichen Schlafgemächern. Der Edelmann, der den jüngeren Wettiner in seiner Gewalt hatte, floh in Richtung Böhmen, wurde aber überwältigt und nach kurzem Prozess am 14. Juli in der Bergwerkstadt Freiberg im Erzgebirge öffentlich mit dem Schwert hingerichtet. Ein Kumpan, mit dem älteren Prinzen unterwegs, stellte sich nach der Zusicherung von Straffreiheit.
Der Kriminalfall des Spätmittelalters sorgte auch für Aufregung an anderen europäischen Höfen. Schließlich war die Mutter der Knaben Margarethe von Österreich. Die Entführung ging in die volkstümliche Literatur ein und lieferte Stoff für viele Legenden, darunter jene, dass man Schwalbe zur Strafe für seine Tat im Schloss lebendig einmauerte. Historiker fanden aber keine Anhaltspunkte für dieses Gerücht.
Die Söhne des Kurfürsten setzten in guter väterlicher Tradition den Bruderzwist um Gebietsansprüche fort und erzwangen 1485 die „Leipziger Landesteilung“. Altenburg fiel dabei unter die Hoheit Ernsts (1441–1486), der die Kurwürde erhielt. Albrecht (1443– 1500) regierte fortan als Herzog von Sachsen. Sechs Jahrzehnte später kam es nach dem Schmalkaldischen Krieg protestantischer Fürsten gegen den katholischen Kaiser Karl V. zum endgültigen Bruch der Wettiner in zwei unabhängige Herrscherhäuser. Albrechts Nachfolger, Albertiner genannt, stiegen zu mächtigen Kurfürsten (und polnischen Königen) auf und begründeten das Königreich Sachsen. Die Ernestiner stellten die Landesherren der durch komplizierte Erbteilungen zersplitterten thüringischen Staaten, darunter Altenburg, das 1603 selbständiges Fürstentum wurde. 1672 kam es zum Herrschaftsbereich von Herzog Ernst dem Frommen von Sachsen-Gotha, und nach weiteren Landesteilungen entstand 1826 schließlich das Herzogtum Sachsen-Altenburg.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließen die Fürsten ihre Residenz über der Stadt weiter ausbauen und eine neue geschwungene Zufahrt errichten. Das Schloss erhielt sein heutiges Aussehen. Bei den Arbeiten blieben markante frühe Verteidigungsanlagen wie Zwinger und Torturm erhalten. Sie widerstanden schon 1430 der Belagerung durch die religiös-antifeudalistischen Hussiten aus Böhmen, die auf ihrem Kriegszug gegen Schlesien, Österreich und Sachsen auch Altenburg einzunehmen versuchten. Über allem erhebt sich der aus dem 12. Jahrhundert stammende so genannte Hausmannsturm, von dem die Burgwachen einst nach Feinden Ausschau hielten. Der Barockstil zeigt sich besonders an der 1999 renovierten, zum geräumigen Hof gerichteten Fassade des so genannten Corps de Logis, des Wohntrakts, in dem heute das Museum untergebracht ist. Doch nicht nur die umfangreiche Spielkartensammlung zählt zu den Sehenswürdigkeiten. Die Schlossherren begannen im 16. Jahrhundert, der Mode der Zeit folgend, mit der Einrichtung einer so genannten Rüst- und Antiquitätenkammer, in die sie alles legen ließen, was ihnen des Aufbewahrens wert schien: Waffen jeder Art, Harnische, Fahnen und Standarten, Gemälde sowie eine umfangreiche Kollektion an Porzellan (darunter antike ostasiatische Vasen) und Fayencen. Natürlich liegt in einer Vitrine auch die Riemenleiter aus Leder, die Kunz von Kauffungen mit Kumpanen zu seiner Tat benutzte; angeblich hatte Helfer Schwalbe diese Leiter an der Außenmauer herabgelassen. Ein Teil der Kunstschätze im Schloss stammt von dem sächsischen Staatsmann Bernhard August von Lindenau (1779 – 1854). Der gebürtige Altenburger, ein begeisterter Sammler, stiftete sie der herzoglichen Rüst- und Antiquitätenkammer. In der Stadt steht übrigens auch das nach ihm benannte Museum mit einer der schönsten und größten Sammlungen italienischer Malerei aus dem 13. bis 16. Jahrhundert nördlich der Alpen. Der zweite Band der EDITION LOGIKA (erschienen 1999) beschreibt das Lindenau-Museum.
Architektonisch elegant in den Schlosskomplex mit einbezogen hebt sich die spätgotische Kirchenfront deutlich ab. Mit ihrer Errichtung begannen die Baumeister etwa um 1400. Das Gotteshaus steht mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem Platz der ehemaligen Pfalzkapelle. Doch von der mittelalterlichen Ausstattung blieb, bis auf das mit reichen Schnitzereien verzierte Chorgestühl, kaum etwas erhalten, nicht zuletzt, weil in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts umfangreiche Renovierungsarbeiten stattfanden. Diesen Zeitraum markiert in der Stadtgeschichte aber auch ein anderes Ereignis, der durch Reformation und Gegenreformation ausgelöste Dreißigjährige Krieg. Als Folge von Plünderungen, Bränden und Krankheiten sank die Einwohnerzahl von 2615 dramatisch auf 615. Altenburg hatte sich 1522 zur Lehre des Reformators Martin Luther bekannt, der häufig in den Kirchen der Stadt predigte.
In der Schlosskirche fällt die imposante seitliche Orgel mit mehr als 2.000 Pfeifen sofort auf. Sie stammt von dem Hoforgelbauer Heinrich Gottfried Trost (1681–1759) und wurde zwischen 1735 und 1739 installiert. Der kurfürstlich-sächsische Hofkomponist Johann Sebastian Bach äußerte sich voll des Lobes, als er als einer der ersten bedeutenden Organisten auf dem Instrument spielte. Während des Ersten Weltkriegs beschlagnahmten Soldaten die großen Zinnpfeifen, um sie zu Munition einzuschmelzen. Für Jahrzehnte fielen so mehrere Register beim Spielen aus; Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhundert wurde die Trost-Orgel dann komplett restauriert und zählt seither wieder zu den klangschönsten Deutschlands. Bei Konzerten finden etwa 270 Zuhörer im barocken Kirchenraum Platz.
Horst Heinz Grimm
Liebhaber sakraler Kunst finden am Nordrand des Harz-Gebirges Erlesenes: Im Dom St. Stephanus und St. Sixtus zu Halberstadt liegt die größte Sammlung mittelalterlicher Kunst, die in einer Kirche in Deutschland erhalten geblieben ist. Das älteste der mehr als 650 Objekte, ein Elfenbein-Diptychon, stammt aus dem Jahr 414. Die hier aufbewahrten mittelalterlichen Textilien zählen zu den weltweit bedeutendsten. Darunter sind zwei einzigartige Bildteppiche aus dem 12. Jahrhundert sowie 90 liturgische Gewänder.
Prächtige Behälter für Reliquien erinnern an die Zeit extensiver Heiligenverehrung. Etwa ein Dutzend byzantinische Arbeiten bilden den reichsten derartigen Bestand eines Kirchenschatzes. Selbstverständlich fehlen auch aufwändig gestaltete Handschriften und Altarbilder nicht. Der gotische Dom selbst ist ein architektonisches Kunstwerk und zählt zu den schönsten Sakralbauten Deutschlands. Die Schriftstellerin und Historikerin Ricarda Huch (1864 bis 1947) schrieb: „Viele Kirchen mögen prächtiger, merkwürdiger, kunstreicher sein als der Halberstädter Dom; dieser scheint mir von allen der edelste zu sein.“
Halberstadt, ursprünglich sächsisches Siedlungsgebiet, wurde zu Beginn des neunten Jahrhunderts zum östlichsten Missionsstützpunkt der Karolinger ausgebaut, die die heidnischen Sachsen und Slawen unterwarfen und gewaltsam zum Christentum bekehrten. Kaiser Karl der Große, der die Kirche als Bestandteil seines Herrschertums sah, schickte als ersten Administrator Bischof Hildegrim von Chalons-sur-Marne im Jahr 804 in die ferne Diözese, die in ihrer territorialen Ausdehnung damals etwa der Größe des Bundeslandes Sachsen-Anhalt entsprach. Die Missionare errichteten ihre Kirche auf dem Platz, auf dem sich heute der Dom mit seinen zwei schlanken Türmen als Wahrzeichen Halberstadts erhebt. Der Domplatz bildete die Keimzelle der christlichen Ansiedlung. Zum Patron der ersten Bischofskirche wählte Hildegrim den heiligen Stephanus, den ersten der sieben von den Aposteln geweihten Diakone der urchristlichen Gemeinde in Jerusa- lem. Sein Gedenktag ist der 26. Dezember. Die Verbreitung der Lehre Jesu brachte dem hervorragenden Prediger im Jahr 35 unserer Zeitrechnung wegen Gotteslästerung den Tod durch Steinigung und löste die erste große Christenverfolgung aus. Reliqiuen dieses Erz-Märtyrers, dem auch der Stephansdom zu Wien geweiht ist, kamen mit Hildegrim aus Frankreich. Später wurde der heilige Sixtus zweiter Dompatron. Dieser frühe Papst war 258 in Rom nach nur einjähriger Amtszeit während der Christenverfolgung Kaiser Valerians den Märtyrertod gestorben. Reliquien des Heiligen brachte Bischof Bernhard (926 bis 968) von einer Rom-Reise dann nach Halberstadt.
Kaiser Ludwig der Fromme bestätigte in einer 814 datierten Urkunde das Bistum. Die katholische Geistlichkeit ließ ihre Missionskirche bis 859 entsprechend zu einem Dom ausbauen. Der Bau stürzte nach Überlieferungen 965 ein. In nur 27 Jahren entstand die neue Bischofskirche und erhielt nahezu die Größe des heute bestehenden Gotteshauses. An der feierlichen Domweihe nahm Kaiser Otto III. mit seinem Hofstaat im Jahr 992 teil und legte als Geschenk sein goldenes Zepter auf den Altar. Es befindet sich seit Jahrhunderten allerdings nicht mehr im Schatz.
Auf die Festlichkeiten fiel aber ein Schatten: Zum großen Ärger des Halberstädter Klerus hatte Kaiser Otto der Große schon im Jahr 968 die Grenzfestung Magdeburg zum Erzbistum erhoben und endgültig zum kirchlichen Zentrum für die Gebiete östlich der Elbe gemacht. Das ältere Bistum Halberstadt musste nach dieser Entscheidung weite Gebiete sowie die Suffraganbistümer Merse- burg und Zeitz an den Konkurrenten abtreten. Das 989 von Otto III. verliehene Markt-, Münz- und Zollrecht machte jedoch den Weg frei für den wirtschaftlichen Aufstieg.
Ein schwarzes Jahr erlebte die Stadt 1179. Die Soldaten Heinrichs des Löwen, der Halberstadt im Machtkampf mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa unter seinen Einfluss bringen wollte, richteten angesichts des Widerstands schwere Verwüstungen an und brandschatzten den Dom. Bischof Ulrich und die Bürgerschaft begannen erfolgreich den Wiederaufbau des Bistums. Es entstand ein florierendes Handelszentrum, das später dem mächtigen Städtebund der Hanse beitrat. Auch der Dom erhielt wieder seine Pracht und konnte 1220 neu geweiht werden. Zu dieser Zeit befanden sich im Domschatz schon diverse Kleinode – darunter das Demetrius-Reliquiar -, die Bischof Konrad von Krosigk vom vierten Kreuzzug mitgebracht hatte. Einer der Domherren trug als The- saurius die Verantwortung für die sichere Aufbewahrung.
Der vierte Kreuzzug darf als trauriges Ereignis der christlichen Geschichte gelten. 1204 war die Hauptstadt des byzantinischen Reiches Konstantinopel von den Rittern und ihren Fußtruppen erobert und geplündert worden. Die abendländischen Kreuzfahrer fielen auch über die Hagia Sophia, die Mutterkirche der Orthodoxie, her. Dabei lieferten sich die Eroberer wilde, unwürdige Kämpfe um Reliquien. „Der Satan und nicht Gott hat euch geleitet“, kommentierte Papst Innozenz III. das abscheuliche Treiben, als er davon erfuhr.
Bischof Konrad, der sein Amt von 1201 bis 1208 bekleidete, zog mit seiner reichen Beute in einer feierlichen Prozession am 16. August 1205 in Halberstadt ein. Dieses Datum galt fortan als Feiertag, zu dem Pilgerscharen zur Reliquenverehrung in die Stadt und in den Dom strömten. Ehe sich der Kirchenfürst in ein Kloster zurückzog, stiftete er einen Teil seiner Schätze der Dom- kirche St. Stephanus und St. Sixtus. Ein päpstlicher Legt verfügte dann nach Konrads Tod die Übergabe weiterer Stücke, darunter Apostelreliquien und ein Finger des heiligen Nikolaus, der in einem vergoldeten, reich mit Edelsteinen geschmückten Armreliquiar zum aktuell gezeigten Bestand des Domschatzes gehört.
In den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts begann der Bau eines neuen Domes. Offiziell hieß es zur Begründung, das Gotteshaus sei reparaturbedürftig. Tatsächlich aber fiel der Blick nach Magdeburg, wo Baumeister seit 1209 eine prächtige Kathedrale errichteten. Halberstadt wollte gleichziehen. Doch es sollte insgesamt gut zweieinhalb Jahrhunderte dauern, bis die letzten Handwerker verschwunden waren und 1491 die mehr als 100 Meter lange dreischiffige, im Mittelteil fast 27 Meter hohe Basilika mit ihrer Doppelturmfassade von Erzbischof Ernst von Sachsen geweiht wurde. Die Seitenschiffe erreichen eine Höhe von nahezu 14 Metern. Der Einfluss nordfranzösischer Gotik ist deutlich erkennbar. Das Baumaterial Sandstein stammte aus den nahen Huybergen.
Die immer noch bestehenden Hoffnungen des Halberstädter Klerus auf eine Aufwertung ihres Bistums erfüllten sich nicht. Zwischen 1479 und 1566 waren die Erzbischöfe Magdeburgs in Personalunion auch die Administratoren Halberstadts. Zu ihnen gehörte Albrecht von Brandenburg (1490 bis 1545). Er stand ebenfalls dem Erzbistum Mainz vor und erhielt bereits mit 28 Jahren die Kardinalswürde. Der Kurfürst avancierte zum mächtigsten Kirchenherrn der deutschen Lande. Gegen den von ihm zu einer sprudelnden Geldquelle für sich und den Klerus maßlos aufgebauschten so genannten Ablasshandel (Freikaufen von Bußstrafen) entstand Widerstand, der schließlich Martin Luther zur Veröffentlichung seiner 95 Thesen veranlasste und die Refor-mation auslöste. Das Gewähren von Ablässen gehörte auch in Halberstadt schon lange zum Alltag; auf diese Weise soll der Dombau seit 1258 finanziert worden sein. Im 15. Jahrhundert standen allein in der Kathedrale etwa 40 Altäre zur Heiligenverehrung.
Zu Zeiten Albrechts von Magdeburg verfügte Halberstadt über einen noch weitaus größeren Domschatz. Zahlreiche wertvolle Stücke davon übernahm der Kirchenfürst für immer in seine berühmte Reliquiensammlung, das „Hallesche Heilthum“. Die Sammlung erhielt diesen Namen, weil der Erzbischof sie während seines langjährigen Aufenthalts in Halle an der Saale aus den Kirchen seines Bereiches zusammentragen ließ. Er hatte diese Stadt 1514 zu seinem ständigen Sitz gemacht und residierte dort bis zu seinem durch die Reformation bedingten Umzug nach Mainz im Jahr 1541 mit allem Prunk eines Herrschers seiner Zeit. Auch die hohe Geistlichkeit Halberstadts lebte im 16. Jahrhundert äußerst üppig. Der Rat der Stadt klagte sogar über die mangelnde Sittlichkeit des Domklerus, dessen Mitglieder in eigenen Gebäuden – so genannten Kurien – auf dem Domplatz wohnten. Einige der später neu errichteten Bauten blieben bis heute erhalten.
Die Reformation kam etwa 1524 nach Halberstadt. Kardinal Albrechts Statthalter Heinrich Leucker unterdrückte zunächst brutal die neuen Ideen. Doch die Stände erzwangen die Duldung der evangelischen Lehre. Ein gefürchteter Bildersturm im Dom selbst blieb aus. So überstanden die Altarbilder und Skulpturen hier unbeschadet. Fanatisch-religiöse Protestanten zerstörten bei diesen Aktionen an anderen Orten zahlreiche Kunstwerke mit bildlichen Darstellungen Gottes, Christi und der Heiligen, weil sie zu angeblichem Götzendienst verleiteten.
Die Reformierung des Doms erfolgte 1591 mit dem ersten evangelischen Gottesdienst. Als erster Protestant nahm Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel auf dem Bischofs- stuhl Platz. Im Domkapitel blieben aber die katholischen Geistlichen weiter vertreten und zelebrierten ihre Heiligen Messen ebenso wie die Protestanten ihre Gottesdienste. Die neue Zeit brachte jedoch ein völlig anderes Liturgieverständnis. An die Stelle der Prachtentfaltung der katholischen Kirche trat protestantische Schlichtheit.
Als die Truppen des kaiserlichen Feldherrn Wallenstein 1629 für drei Jahre Halberstadt besetzten, wurde der Dom vorübergehend wieder katholisch. Dann kamen die protestantischen Schweden nach Halberstadt, das konfessionell gemischte Kapitel trat wieder zusammen. Die Gegenreform konnte nie wieder Fuß fassen. Die Zahl der von der Kirche Roms gestellten Geistlichen nahm weiter ab. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde das Bistum säkularisiert und dem Kurfürstentum Brandenburg zugesprochen.
Nach der Niederlage Preußens gegen die napoleonischen Truppen in der Schlacht von Jena am 14. Oktober 1806 besetzten die Franzosen vier Tage später das Zentrum des Bistums. Halberstadt wurde Bestandteil des vom Napoleon Bonapartes Bruder Jerome durch den Frieden von Tilsit (1807) gebildeten kurzlebigen Königreichs Westphalen. In diese Zeit fällt die Auflösung des Dom- kapitels, als der fremde Herrscher 1810 die Säkularisierung der noch vorhandenen geistlichen Stifte seines Machtbereiches anordnete. Eine Beschlagnahme des Domschatzes konnten die Dom- prediger durch ihre höchst engagierten Interventionen glücklicherweise verhindern.
Die Völkerschlacht bei Leipzig vom 14. bis 19. Oktober 1813 bedeutete das Ende von Napoleons Herrschaft in Deutschland. Der Wiener Kongress sprach Halberstadt schließlich der preußischen Provinz Sachsen zu. Der Staat wurde Eigentümer der Domgebäude und des Inventars – vor allem des Domschatzes, dessen Wert nur Kenner er kannten. Und Kenner waren nicht immer am Werk, wenn es um die Verwertung beispielsweise der Textilien ging. Stücke gingen verloren, wurden ausgemustert oder fielen Dieben in die Hände. Der Karls-Teppich, eine Bildwirkerei aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ist auch nicht mehr vollständig erhalten. Die Kürzung, bei der die Köpfe der Figuren am oberen Rand wegfielen, erfolgte vermutlich bereits im 15. Jahrhundert, um das Tuch als Dorsale für den Levitensitz in Form zu bringen.
Ein Besinnen auf die Vergangenheit, besonders auf das Mittelalter, ließ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch das Interesse an den sakralen Kunstwerken erwachen. In Halberstadt machte hierbei der langjährige Domprediger Bernhard Augustin (1771 bis 1856), ein Theologe, von sich reden. Er ließ beispielsweise Altarbilder und alte Handschriften in den abgeschlossenen spätgotischen Kapitelsaal in Sicherheit bringen, die sich zu dieser Zeit noch dem Zugriff Unbefugter ausgesetzt im Dom befanden. Außerdem kümmerte er sich um liturgische Gegenstände aus der ungenutzten ehemaligen Stiftskirche Unser Lieben Frauen (Liebfrauenkirche) mit ihren vier markanten Türmen am anderen Ende des langgestreckten Domplatzes. Aus ihr stammt die mittelalterliche Ablasstafel, die in der Schatzkammer zu sehen ist. Auch die Thronende Madonna mit Kind, eine um 1220 entstandene Arbeit aus Eichenholz, hatte ursprünglich in dem 1005 erstmals errichteten Gotteshaus ihren Standort.
Nach und nach versuchten Küster, eine Ordnung in den Bestand an sakraler Kunst zu bringen. 1873 erschien eine interne Auflistung bis zur Inventar-Nummer 433. Inzwischen gehören mehr als 650 Gegenstände zum Domschatz. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kümmern sich auch Restauratoren und Konservatoren regelmäßig um die Erhaltung der zum Teil einzigartigen Kunstwerke, die 1912 als nationaler Kunstbesitz eingestuft wurden. Doch es dauerte bis zum 9. Mai 1936, ehe die Öffentlichkeit die kostbaren Stücke im eingerichteten „Dommuseum“ erstmals zu sehen bekam. Das Konzept dafür hatte Erich Meyer, Kustos des Berliner Kunstgewerbemuseums, erarbeitet und realisiert. Die Ausstellung blieb nur wenige Jahre geöffnet, dann zwang der Zweite Weltkrieg die Verantwortlichen zu entsprechenden Maßnahmen. Die Stücke wurden ausgelagert – erst in Banktresoren der Stadt und dann, als Luftangriffe drohten, in einer der Höhlen bei Quedlinburg. Alle notwendigen konservatorischen Maßnahmen für die Aufbewahrung konnten allerdings nicht getroffen werden, sodass Schädigungen auftraten.
Kurz vor Kriegsende, am 8. April 1945, fielen noch Bomben auf Halberstadt und richteten schwere Verwüstungen an. Sie trafen auch den Dom. Der Kapitelsaal mit dem herrlichen spätgotischen Gewölbe wurde zerstört. Früher standen hier Skulpturen, an den Wänden hingen Altarbilder und Textilien. Es begann der mühsame Wiederaufbau. 1956 fanden in der Kirche wieder Gottes-dienste statt, der Domschatz konnte am 4. Juli 1959 nach zweijähriger Aufbauarbeit erstmals besichtigt werden. Durch geschicktes Verstecken und umsichtiges Handeln der Kirchengemeinde hatte er die Nachkriegswirren überstanden. Und die Einheit von Dom und Schatz war erhalten geblieben.
Die Eigentumsfrage ist seit 1998 endgültig geklärt. Die Domgemeinde zu Halberstadt besitzt das vertraglich geregelte Nutzungs- und Präsentationsrecht des Domschatzes. Der Kirchenschatz gehört aber zum Vermögensbestand der Stiftung zum Erhalt und zur Nutzung der Dome, Kirchen und Klöster des Landes Sachsen-Anhalt, kurz Domstiftung genannt. Sie sichert die kontinu-ierliche restauratorische Betreuung und sorgt für Baumaßnahmen, um die konservatorischen Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Hierbei ist sie auf Hilfe von privater Seite angewiesen, um die Ausstellungsräume nach modernsten Anforderungen neu gestalten zu können.
Die Schatzkammer und Teile des Doms sind nur mit Führungen zu besichtigen. Der Weg zu den Kleinodien führt durch den Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert, der einen Garten von 44 mal 30 Metern umschließt. Im 1514 vollendeten Kapitelsaal, dessen zerstörtes Netzgewölbe nach dem Krieg durch eine Flachdecke ersetzt werden musste, sieht man Altarbilder in den Nischen; zu den ältesten Tafeln zählt die „Madonna mit der Korallenkette“ (Anfang 15. Jahrhundert). Der Kreuzigungsaltar von Hans Raphon, gemalt 1508/09, gilt als ein Hauptwerk des niedersächsischen Künstlers. In dem langgestreckten Raum sind auch Skulpturen und Mobiliar ausgestellt.
Im Obergeschoß des Remtergebäudes hängen einige der wertvollen Wandteppiche. Hinter Glas präsentieren sich liturgische Gewänder. Das älteste, ein seidener Chormantel, wird um das Jahr 1000 datiert und stammt aus Byzanz oder Syrien. Die tonnengewölbte Schatzkammer nahe der ehemaligen Sakristei beherbergt in zehn Wandvitrinen Reliquiare, liturgisches Gerät und byzantinische Kunstwerke wie die vergoldete Weihbrotschale aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Diese befand sich vermutlich im reichen Beutegut, das Bischof Konrad vom 4. Kreuzzug aus Konstantinopel mitbrachte. In fünf Pultvitrinen liegen ein halbes Dutzend der wertvollen Handschriften des Domschatzes. Viele andere bedeutende Stücke – es sind etwa 50 – müssen aus Platzgründen noch in Schränken verborgen bleiben. Dazu zählt beispielsweise das Semeca-Missale, ein Buch mit sämtlichen Lesungen, Gesängen und Gebeten für die katholische Messfeier aus dem 13. Jahrhundert. Auch die kostbare so genannte amerslebener Bibel, um 1180 in lateinischer Sprache geschrieben und mit Malereien reich verziert, befindet sich derzeit nicht unter den Exponaten.
Deutlich erkennt der Besucher den Mangel an Platz; dicht gedrängt stehen und liegen die Exponate in ihren Schaukästen. Da ist beispielsweise das Tafelreliquiar aus dem 14. Jahrhundert, das recht grob in einem Stück aus einer Holzbohle gezimmert wurde. Vergoldung kaschiert die derben breiten Rahmen und die Stege zwischen den Schauöffnungen mit Reliquien populärer Heiliger. Durch eine großzügigere Präsentation kämen die künstlerischen Details besser zur Wirkung. Deshalb sind nicht nur neue, zeitgemäße Vitrinen notwendig, es wird auch eine Erweiterung der Schauräume in den mittelalterlichen, historischen Gemäuern überlegt. Dabei müssen alle konservatorischen Voraussetzungen wie richtiges Raumklima und Temperatur erfüllen werden.
An den Jahrhunderte alten Objekten, die ursprünglich alle in Gebrauch waren, sind ständig Restaurierungen durch Fachkräfte notwendig. Diese verschlingen einen beachtlichen Teil des Etats. Die Domstiftung bittet zur Finanzierung der Arbeiten auch um Spenden. Auf der Liste steht u.a. das mittelalterliche Armreliquiar des Hl. Nikolaus. Auch ein Alabasterrelief an der Kanzel des Domes bedarf dringend einer Bearbeitung. Wie wichtig die Bemühungen um eine fachgerechte Erhaltung der Kleinodien sind, zeigt sich am Beispiel des 72 Zentimeter hohen Kreuzes aus geschliffenem Bergkristall, das in der Schatzkammer zu sehen ist. Es stammt aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und wurde aus insgesamt elf Einzelteilen vermutlich in Venedig gefertigt, einem der Zentren für solche Arbeiten. Das früher als Altarschmuck gebrauchte so genannte Kruckenkreuz ist dermaßen zerbrechlich, dass es nicht einmal für Fotoaufnahmen von seinem Vitrinenplatz genommen werden kann.
Im Dom mit seinen beeindruckenden Raumproportionen selbst spenden hohe schlanke Fenster mildes Licht. Im Chorumgang und in der Scheitelkapelle finden sich die Glasmalereien aus dem 14. und 15. Jahrhundert, deren Farbkraft ungebrochen erhalten blieb. Die ältesten der Darstellungen stammen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts und zeigen eine Szenenfolge aus dem Neuen Testament von der Verkündigung bis zur Passion. Gleich beim Haupteingang erhebt sich im Langhaus auf einem dreistufigen, oktogonalen Podest ein mächtiges spätromanisches Taufbecken aus Marmor, das Historiker auf das Jahr 1195 datieren. Es stand schon im ottonischen Dom. Ein gewaltiger Radleuchter aus Bronze im Mittelschiffkann 60 Kerzen aufnehmen. Dompropst Balthasar von Neuenstadt stiftete ihn dem Gotteshaus; er wurde nach seinem Tod 1516 darunter bestattet.
Über dem spätgotischen Lettner, der architektonischen Trennung des Hohen Chors vom Gemein deraum, erhebt sich die monumentale Triumphkreuz-Gruppe aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts, die bereits im Vorgängerbau des heutigen Domes dominierte. In dem vom übrigen Got teshaus meterhoch abgeschlossenen Chorraum mit dem Hochaltar, der bis zur Reformation nur für die Geistlichkeit zugängig war, steht beidseitig das reich mit virtuosen Schnitzereien verzierte Gestühl mit Sitzen für insgesamt 64 Priester. Licht spendete die schon im 14. Jahrhundert erwähnte Leuchterkrone aus vier sich nach oben verjüngenden Reifen, auf der fast 50 Kerzen Platz finden. An den Rückwänden dieser Sitzreihen hingen, wie auf alten Fotos noch zu sehen, bis vor dem Zweiten Weltkrieg die romanischen Bildteppiche. Sie zählen zu den wertvollen Exponaten des Domschatzes, der nicht allein dieser Stücke wegen unter Kennern weltweiten Ruf genießt.
Horst Heinz Grimm
Hinter den mächtigen Mauern der Moritzburg in der historischen Salinen-Stadt Halle an der Saale liegen heute die Kunstschätze Sachsen-Anhalts, Tausende von Artefakten, die alle gar nicht in den Schauräumen Platz finden. Münzen aus dem 12. Jahrhundert, Kunsthandwerk des Barock, die Stadtansichten der Brüder Merian, besonders beeindruckende Photographien, Plastiken verschiedener Epochen, modernes Design – und natürlich bedeutende Gemälde mit dem Schwerpunkt moderner Kunst gehören zum Bestand der Staatlichen Galerie Moritzburg Halle Landesmuseum Sachsen Anhalt. Den Grundstein der heute weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Sammlung legten zunächst Bürger, die Bilder aus eigenem Besitz stifteten. Die Eröffnung des ersten Museums für Kunst und Kunstgewerbe fand am 29. März 1885 in Räumen des städtischen Eich- und Waageamts am Großen Berlin, einem Platz im Zentrum, statt. Es war ein bescheidener Beginn: Der Galerie gehörten anfangs lediglich 18 Gemälde und Skizzen. Als Kurator fungierte ehrenamtlich der kunstbegeisterte und vermögende Privatmann Franz Otto. 1895 verfügte er schon über einen Fundus von 92 Gemälden und 38 Plastiken. Sein Konzept für die Sammlung schloss alle Gebiete der Kunst und des Kunstgewerbes ein, zeigte jedoch kein konzentriertes oder zielgerichtetes Profil. Nach Ottos Tod 1901 gab es weiterhin keinen hauptamtlichen Museumsleiter, obwohl die Bürgerschaft der Geburtsstadt des Komponisten Georg Friedrich Händel (1685–1759) entsprechende Forderungen erhob.
In diese Funktion holten die Stadtväter erst am 15. September 1908 den Kunsthistoriker Max Sauerlandt (6. Februar 1880 bis 1. Januar 1934) nach Halle, zunächst als Kurator. Zwei Jahre später übernahm er die Direktion der Galerie und blieb bis zu seiner Berufung ans Museum für Kunst und Gewerbe nach Hamburg im Jahr 1919 auf diesem Posten. Er sollte der Sammlung in der Moritzburg mit seiner konzeptionellen Entscheidung das grundlegend neue Profil geben. Sauerlandts Engagement galt von Anfang an der modernen bildenden Kunst und dem historischen Kunsthandwerk. Er kaufte Arbeiten zeitgenössischer deutscher Künstler ab dem späten 19. Jahrhundert. So kamen zunächst Spätimpressionisten wie Max Slevogt, Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Beckmann nach Halle. Dann befasste sich der Direktor auch näher mit den Expressionisten. Als er 1913 Emil Noldes Gemälde „Abendmahl“ aus dem Jahr 1909 erwarb, diskutierten die Bürger öffentlich darüber, ob zeitgenössische Kunst denn überhaupt „museumswürdig“ sei.
Doch Sauerlandt setzte sich mit seiner fortschrittlichen Auffassung durch. Die in anderen Museen eifrig zusammengetragene Malerei des abgelaufenen 19. Jahrhunderts war für ihn lediglich Einstimmung und Heranführen an die Kunst der Gegenwart. Diese Klassische Moderne prägte fortan den Stil des Museums, das sich schnell und überaus erfolgreich zu einem Zentrum für zeitgenössische Malerei in Deutschland entwickelte. Bis die Nationalsozialisten 1937 mit ihrer ideologisch motivierten Aktion „Entartete Kunst“ aus den Museen des Landes willkürlich insgesamt fast 17.000 Werke des 20. Jahrhunderts beschlagnahmen ließen und damit auch dem Bestand in Halle schwersten Schaden zufügten. Ein Teil der Werke wurde gegen Devisen ins Ausland verkauft, etwa 5.000 gingen am 20. März 1939 auf dem Hof der Hauptfeuerwache in Berlin in Flammen auf. Damals residierte die Galerie längst in den Räumen der Moritzburg, einer von 1484 an am damaligen Stadtrand erbauten Mischung aus Festung und Schloss der über Halle herrschenden Erzbischöfe von Magdeburg. Sie hatten der Bastion den Namen ihres Schutzpatrons, des Heiligen Mauritius, gegeben.
Die Stadt an einem wichtigen Saale-Übergang lebte schon seit der Bronzezeit dank ihrer reichen Solquellen von der Salzgewinnung. Urkundliche Hinweise auf eine Siedlung führen zurück ins Jahr 806, als die Franken hier ein Kastell errichteten. 961 wurde das Stadtrecht verliehen. Halle kam auf Betreiben des Sachsenkaisers Otto I. im Jahr 968 unter die Hoheit des Erzbistums Magdeburg, trat der Hanse bei (1280), erhielt 1310 städtische Freiheiten und schloss 14 Jahre darauf ein „Ewiges Bündnis“ mit der Schwesterstadt.
Politische Spannungen mit dem nach mehr Unabhängigkeit strebenden Bürgertum der Salzstadt sowie Querelen zwischen den unteren Volksschichten und dem Patriziat forderten die Magdeburger Kirchenfürsten 1478 zum militärischen Eingreifen heraus. Diese wollten mit der Entsendung von Truppen den „Ungehorsam“ der Untertanen unterdrücken und damit auch die Eigenständigkeit der Stadt beenden. Als Zeichen ihres Selbstbewusstseins ließen die Stadtväter den frei stehenden 84 Meter hohen sogenannten Roten Turm (1418 bis 1506 erbaut) im Zentrum errichten. Erzbischof Ernst von Wettin legte schließlich am 25. Mai 1484 an der Nordwestecke der seit 1120 bestehenden mittelalterlichen Stadtmauer den Grundstein zum Festungsbau Moritzburg und demonstrierte damit deutlich den Machtanspruch seines Hauses. Zur Bezahlung der Baukosten ließ er die Einnahmen der Stadt aus der Salzgewinnung beschlagnahmen.
Der Erzbischof verlegte seinen Sitz von der Hansestadt Magdeburg zunächst auf die Burg Giebichenstein ein paar Kilometer nördlich des befestigten Stadtkerns. 1503 wurde die für ihre Zeit innovative Moritzburg als Residenz bezogen. Fortan bestimmte zeitgenössische Hofkultur das Leben in Halle. Als Ernsts Nachfolger regierte der verschwenderische Markgraf Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Er hatte an der von ihm mitbegründeten Universität in Frankfurt an der Oder humanistische Wissenschaften studiert, jedoch nicht Theologie. Dennoch wurde er mit 23 Jahren zum Erzbischof geweiht. Nach seinem Einzug 1514 entwickelte sich die Salinen-Stadt zu einem Zentrum der fürstlichen Frührenaissance in Deutschland. Bedeutende Künstler wie Lucas Cranach der Ältere und Albrecht Dürer arbeiteten zeitweise hier. Der mächtige Kirchenfürst (er war auch Erzbischof von Mainz und erhielt 1518 die Kardinalswürde) initiierte im ganzen Reich den auch für seine eigene Schatulle höchst einträglichen so genannten Ablasshandel, mit dem sich gläubige Katholiken gegen Geldzahlungen von Sündenstrafen freikaufen konnten. Martin Luther protestierte als direkter Widersacher Albrechts mit seinen 95 Thesen öffentlich gegen dieses Geschäft mit den Ängsten der Menschen vor den Qualen des Fegefeuers, die die Kirche im Sündenfall in Aussicht stellte, und löste schließlich die Reformation aus.
Der Widerstand der Bürgerschaft in der Salzstadt gegen den höchsten katholischen Würdenträger in Deutschland hatte durch den Protestantismus neue Kraft erhalten. 1541 verließ Albrecht mit allen angesammelten reichen Kunstschätzen Halle und zog nach Mainz und Aschaffenburg. In seinem umfangreichen Gepäck befand sich auch das „Hallesche Heilthum“, die berühmte Reliquiensammlung. Die Moritzburg blieb zunächst zwar katholische Residenz, wurde aber während der Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Reformation vorübergehend von Truppen des protestantischen Fürstenbundes besetzt. Wenige Jahre später spielte der Katholizismus in der Stadt an der Saale keine Rolle mehr, auf der Festung residierten fortan protestantische Administratoren.
Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) erlitt die Moritzburg durch die wechselnden Besetzungen schwere Schäden; ein verheerendes Feuer zerstörte 1637 wichtige Gebäudeteile. Unbeschädigte oder wieder hergestellte Räumlichkeiten der Anlage dienten dann als Verwaltungssitz, Depots und Münzstätte. 1680 kam Halle unter die Hoheit des Kurfürstentums Brandenburg, das bald im neuen Gesamtstaat Preußen aufging. Dessen Herrscher befahl die Instandsetzung der Maria-Magdalenen-Kapelle aus dem frühen 16. Jahrhundert; sie sollte den hier Zuflucht gefundenen Hugenotten als Gotteshaus dienen.
Mit dem Aufkommen der geistigen Strömung der Romantik gegen Ende des 18. Jahrhunderts erschien den Menschen die Anlage der weitgehend zerstörten, aber von Grün durchwucherten Festung in anderem Licht. Sie wurde in jener Epoche, in der man Kulturlandschaften mit verwunschenen Burgruinen, sanften Tälern und schroffen Höhen idealisierte, auf einmal als ein Symbol der „Saale-Romantik“ entdeckt. Selbst Preußens Kronprinz Friedrich Wilhelm zeigte sich bei einem Besuch im Jahr 1817 schwärmerisch beeindruckt. Dies trug sicher dazu bei, dass die Behörden 1822 die Moritzburg zum Denkmal erklärten. Hoffnung für eine neue Verwendung gab es sechs Jahre später, als der klassizistische Architekt Karl Friedrich Schinkel den Ausbau des historischen Gemäuers zu einem neuen Standort der 1694 gegründeten Universität vorschlug. Das Vorhaben scheiterte jedoch an den hohen Kosten. Nutznießer blieb das Militär.
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden Pläne, im Westflügel der Anlage ein Museum einzurichten. Doch erst Jahrzehnte später begannen aufwendige Renovierungsarbeiten. 1904 waren die ersten Räumlichkeiten fertig. Man hatte an der Stelle des ehemaligen Küchentrakts und der Werkstätten der Festungsanlage einen Nachbau des im Stadtzentrum abgerissenen „Talamtes“, des Zunfthauses der Halloren (Salzgewinner) aus dem Jahr 1558, errichtet und zwei der erhaltenen Räumlichkeiten einschließlich der reich verzierten Wandtäfelungen im Original eingebaut. Der Wehrgang, der Torturm und andere Teile der Burg wurden bis 1913 fertig gestellt. Die Gemäldesammlung kam erst 1922 aus dem Eich- und Waageamt in die Moritzburg.
Bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 konzentrierten sich die Museumsleitungen in Halle auf moderne Malerei aller Stilrichtungen. Dann fielen die braunen Schatten willkürlich auf diese von der Diktatur als „undeutsch“ und „kulturbolschewistisch“ klassifizierten Werke. Etwa 200 verschwanden aus den Sammlungen. So kam beispielsweise Noldes „Abendmahl“ nach der Beschlagnahme durch Verkauf nach Dänemark und hängt heute im Statens Museum in Kopenhagen. Über das Schicksal einiger bedeutender Bilder gibt es überhaupt keine Hinweise, sie gelten als verschollen.
Im Zweiten Weltkrieg blieb das alte Zentrum Halles von Bombenangriffen weitgehend verschont, doch standen die Stadt und auch die Moritzburg wie alle Museen in Mittel- und Ostdeutschland vor einem sehr schwierigen Neubeginn. Auf Drängen der Kunstfreunde beschloss der Magistrat schon am 25. Juli 1945 die Rückerwerbung ehemaliger Bestände der Galerie, etwas über zwei Monate später befand sich ein erstes der von den Nazis beschlagnahmten Gemälde wieder in der Moritzburg.
Die sowjetischen Militärbehörden bestimmten bürokratisch bis ahnungslos den Rhythmus des Kulturbetriebs, auch dann, wenn es um die Rückführung der zum Schutz vor Zerstörung durch Kampfhandlungen ausgelagerten Bestände ging. Die Lage war kompliziert, denn auf der Burg wurden auch die Kultur- und Kunstgüter zwischengelagert, deren Enteignung die Besatzungsmacht bei der von ihr verfügten Bodenreform in Schlössern und Herrenhäusern der Region angeordnet hatte. Trotz aller Schwierigkeiten konnte das Museum unter dem im Herbst 1947 zum Direktor berufenen Kunsthistoriker Gerhard Händler schließlich am 7. Oktober 1948 als eines der ersten in Ostdeutschland wieder ständig öffnen.
Nachdem Händler auf Grund des politischen Drucks 1949 Halle hatte verlassen müssen, fasste auch in der Galerie Moritzburg die sozialistische Kulturpolitik Fuß. Als Maxime galt, dem neuen künstlerischen Schaffen des Landes sowie der linken, sozial engagierten Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Die Leitung musste sich, wie von der Politik diktiert, zwangsläufig in erster Linie auf das Sammeln von DDR-Kunst konzentrieren. So sind heute zahlreiche Werke der ostdeutschen Künstler bis 1990 in allen Abteilungen vertreten. Außerdem bemühten sich die Verantwortlichen im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten auch um Rückerwerbungen aus den alten Beständen.
Der späte Gründungstermin der Galerie und auch Max Sauerlandts konsequente künstlerische Ausrichtung auf die Moderne bestimmen nach wie vor den Aufbau der Sammlung Malerei, die insgesamt etwa 2.800 Gemälde umfasst. Großen Anteil haben die ostdeutschen Maler, die zu DDR-Zeiten gearbeitet haben; sie können aber aus Platzgründen nur in Sonderausstellungen gezeigt werden. Kleinere Werkgruppen dokumentieren beispielsweise die Entwicklung der Malerei seit der Spätgotik. Einen wichtigen Akzent setzt die Kunst des 19. Jahrhunderts. Aus diesem Bestand von etwa 200 Werken, der zum Teil aus den Gründungsjahren des Museums stammt, ist die vorliegende EDITION LOGIKA zusammengestellt. Das Museum beherbergt außerdem die bedeutendste und größte Kollektion des in Halle geborenen Malers Adolf Senff (1785– 1863).
Verschiedene Stilrichtungen der Malerei begleiteten die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts: Bis 1830 etwa dominierten Klassizismus (Adam Weise, Ludwig Doell, Carl Gotthard Grass) und Romantik (Carl Blechen, Carl Begas d.Ä., Franz Ittenbach), zwischen 1815 und 1845 regierte Biedermeier (Eduard Gärtner, Wilhelm von Kobell, Franz Krüger, Adolf Senff, Wilhelm Steuerwaldt, Ferdinand Georg Waldmüller), dem Realismus verschrieben sich die Künstler (Carl Blechen, Franz von Lenbach, Friedrich Loos, Hermann Schenck, Carl Schuch) etwa von 1840 an und die siebziger Jahre sahen den Impressionismus (Wilhelm Trübner) aufziehen. Die beliebte Landschaftsmalerei (August Keßler) drückte ein neues Verhältnis zur Natur aus. Großen Raum nahm auch die verherrlichende Historienmalerei (Albert Baur) ein.
Den Schwerpunkt der in Halle gezeigten Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden die Expressionisten (darunter Franz Marcs „Die weiße Katze“ aus dem Jahr 1912). Der Konstruktivismus ist mit wichtigen Arbeiten beispielsweise El Lissizkys vertreten. Der Bauhauskünstler Lyonel Feininger lebte und arbeitete zwischen 1929 und 1931 in der Stadt und schuf in seinem Atelier in den Räumen der Moritzburg die berühmten „Halle-Bilder“, elf Gemälde und 29 Zeichnungen. Sie wurden alle von den Nationalsozialisten 1937 aus der Sammlung geholt. Zwei dieser Gemälde („Marienkirche mit Pfeil“ und „Der Dom in Halle“) sowie zwei Zeichnungen und ein Aquarell gehören heute wieder zum Bestand.
Der Umfang des Grafischen Kabinetts beeindruckt mit etwa 26.000 Werken. Als herausragend gelten mehr als 1.000 teilweise sehr seltene Flugblätter (15. bis 19. Jahrhundert) und die geschlossene Kupferstich-Sammlung europäischer Stadtansichten aus dem 17. Jahrhundert, die in der Werkstatt von Vater und Sohn Merian entstanden. Bedeutend sind außerdem der Bestand an Porträtstichen und die 800 Ornamentstiche des Rokoko und des Klassizismus. Natürlich kommt auch die Moderne nicht zu kurz. Es finden sich wertvolle Unikate u. a. von Oskar Kokoschka, Max Beckmann, Otto Dix sowie Arbeiten der Künstler des „Blauen Reiter“ und der „Blauen Vier“.
Die Aktion „Entartete Kunst“ bedeutete für die Grafik der Moderne einen unschätzbaren Verlust; von 110 beschlagnahmten künstlerisch hochwertigen Arbeiten konnten lediglich vier wieder beschafft werden. Stark vertreten sind auch Werke aus den Kunstzentren der DDR mit umfangreichen monografischen Kollektionen. Eine eigenständige Sammlung von Bildhauerzeichnungen (darunter Auguste Rodin, Wilhelm Lehmbruck und Gustav Weidanz) ergänzt den Bestand in interessanter Beziehung zur Sammlung Plastik.
In der Sammlung Plastik mit ihren mehr als 700 Werken der Bildhauerei vom Mittelalter bis zur Gegenwart dominieren Arbeiten des 19. und 20. Jahrhunderts. Vertreten sind unter anderen Auguste Rodin, Aristide Maillol, Max Klinger, Ernst Barlach und Franz Marc. Als Max Sauerlandt die Galerie in der Moritzburg übernahm, fand er neben wenigen historisch bedeutenden Stücken (u. a. Sandsteinfiguren aus den Jahren 1480 und 1502) eine eher zufällig zusammengetragene Kollektion von keinem besonderen künstlerischen Wert vor. „Es hängt mit der vorwaltenden Bedeutung der Malerei während des ganzen 19. Jahrhunderts eng zusammen, dass die Museen zeitgenössischer Kunst zunächst in den weit überwiegenden Fällen reine Gemäldegalerien geworden sind“, stellte er 1911 fest. „Es darf aber nicht so weitergehen, die Erwerbung moderner Bildwerke für unser Museum ist dringendes Bedürfnis.“
Sauerlandt begann in größerem Umfang zeitgenössische Plastiken zu kaufen, darunter Arbeiten des damals noch weitgehend unbekannten Bildhauers Wilhelm Lehmbruck, eines Expressionisten. Seine Nachfolger entschieden sich nur sehr zurückhaltend für Neuerwerbungen. Durch Glück blieben diese Werke von den Beschlagnahmen der Aktion „Entartete Kunst“ verschont. Die drei Bronzegüsse „Pferde“, „Bären“ und „Tiger“ Franz Marcs entgingen der Einschmelzung, weil ein Experte der Stadt sie als „einwandfreie Kunstwerke„ im Sinne der Nazis einstufte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen vor allem Arbeiten der DDR-Künstler in die Sammlung, die seit 1980 auch um zeitgenössische Stahlplastiken erweitert wurde.
Die Sammlung Kunsthandwerk zeigt eine breit angelegte Kollektion an Gläsern, Keramiken und Metallarbeiten aus allen Jahrhunderten bis in die Gegenwart. Hervorzuheben unter den etwa 1.400 Artefakten der Glassammlung sind beispielsweise der große Bestand an geschliffenen und geschnittenen Gläsern des 17. und 18. Jahrhunderts sowie moderne Arbeiten der Wiener Werkstätten. Steingut, Porzellan und Fayencen sind aus allen Epochen seit dem 14. Jahrhundert zu sehen. Die gesamte Sammlung umfasst etwa 4.200 Stücke und enthält auch Produkte der 1919 in Halle gegründeten Hochschule für Kunst und Design, die in der historischen Burg Giebichenstein am nördlichen Stadtrand untergebracht ist. Deren Arbeiten sind auch in der Metallsammlung mit ihren 800 Stücken zu sehen. Den wertvollsten Bestand stellen hier die um das Jahr 1700 entstandenen Werke der Goldschmiede Halles dar. Besonders stolz ist das Museum auf die so genannte mittelalterliche Hallesche Otto-Schale aus Bronze mit einem Kaiser Otto I. zeigenden Schmuckbrakteaten. Als eines der wenigen deutschen Museen verfügt die Staatliche Galerie Moritzburg über eine eigenständige Sammlung Fotografie mit derzeit fast 50.000 Aufnahmen sowie einer Fachbibliothek mit 8.000 Bänden. Sie wurde 1987 eingerichtet, als der Nachlass des Schweizer Fotografen Hans Finsler (1891-1972) in den Bestand des Museums kam. Er hatte von 1922 bis 1932 an der Kunstgewerbeschule Halle gelehrt und die erste Fachklasse für Sachfotografie in Deutschland gegründet.
Eine 35.000 Münzen und Medaillen umfassende Universalsammlung liegt in dem ebenfalls auf der Moritzburg untergebrachten Landesmünzkabinett Sachsen-Anhalt, das seit 1950 als selbständiger Bereich besteht. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte einen Teil der Sammlung beschlagnahmt. Schwerpunkte bilden heute die mittelalterlichen und neuzeitlichen Prägungen mitteldeutscher Länder, insbesondere Anhalt, Mansfeld, Stolberg und Brandenburg-Preußen. Mehr als 50.000 Geldscheine dokumentieren die Jahre der Inflation in Deutschland.
Horst Heinz Grimm
Die Sammelleidenschaft der in Gotha residierenden Herzöge machte Schloss Friedenstein in Thüringen schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einem Zentrum von Kunstbeständen, dessen Bedeutung bis heute erhalten blieb und weit über die Landesgrenzen hinausgeht. Als besonders herausragend gelten die deutschen Holzschnitte und Kupferstiche aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowie mehrere Hundert als Unikate erhaltene Einblattdrucke. Die Öffentlichkeit bekam die Schätze des Fürstenhauses allerdings erst ab 1824 nach und nach zu sehen. Dieses Jahr gilt als Gründungsdatum des Museums in Gotha. Alles begann mit einer dynastischen Nachfolgeregelung. Drei Söhne des 1640 gestorbenen Herzogs Johann von Sachsen-Weimar einigten sich auf die Teilung ihres Erbes. Ernst erhielt das neu gebildete Fürstentum Sachsen-Gotha. Es war damals ein kleiner Landstrich in trostlosem Zustand. Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges mit Truppendurchmärschen, Plünderungen und Hungersnöten, die Pest und eine Feuersbrunst hatten ihre verheerenden Spuren hinterlassen. Vergessen schien die Zeit, in der das erstmals im Jahr 755 urkundlich erwähnte Gotha mit seinem Stadtrecht aus dem 12. Jahrhundert durch die Lage an der mittelalterlichen Fernhandelsstraße zwischen dem Rhein-Main-Gebiet und Leipzig ein bedeutendes und wohlhabendes Handelszentrum Thüringens war.
Der 331 Meter hohe Burgberg in Gotha, auf dem einst der „Grimmenstein“ als eine der mächtigsten Festungen Mitteldeutschlands thronte, lag nach einer kaiserlichen Strafaktion des Jahres 1567 als gigantischer, von Unkraut überwucherter Trümmerhaufen da. Truppen des sächsischen Kurfürsten August vollzogen damals die so genannte Reichsexekution gegen den hier residierenden protestantischen Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen, der dem geächteten Reichsritter Wilhelm von Grumbach und dessen Gefolgsleuten politisches Asyl gewährt hatte und deshalb selbst unter Reichsmacht gefallen war. Das Heer belagerte mehrere Monate Gotha. Nach der Kapitulation beendeten die Sieger grausam die als solche in die Geschichte eingegangenen „Grumbachschen Händel“. Der Ritter und seine Getreuen starben nach der Folter noch in der Stadt durch die Hand des Scharfrichters. Der Herzog kam in kaiserliche Gefangenschaft nach Österreich, sein stolzer „Grimmenstein“ wurde dem Boden gleichgemacht.
An der Stelle der ehemaligen Festung ließ Gothas neuer Herrscher Ernst I., auf Grund seiner tiefen protestantischen Gläubigkeit auch „der „Fromme“ genannt, am 26. Oktober 1643 den Grundstein für seine Residenz legen. Die Arbeiten an der größten frühbarocken Schlossanlage in Deutschland nach den Entwürfen des Baumeisters Andreas Rudophi dauerten 13 Jahre. Der schlicht gestaltete Dreiflügelbau im Ausmaß von 140 mal 110 Metern entstand als erstes Schloss nach dem Dreißigjährigen Krieg. Er beherrscht seither mit seinen zwei unterschiedlich geformten Turmkuppeln das Stadtbild.
An den großen Höfen Europas ließen die Herrscher nach dem Vorbild der kirchlichen Schatzkammern schon seit dem 14. Jahrhundert zusammentragen, was ihnen interessant erschien: Kunst und Kunsthandwerk, Münzen, wissenschaftliche Geräte, Skelette, Fossilien, Mineralien und Kuriositäten aus fremden Ländern. Im späteren 15. Jahrhundert begannen auch deutsche Fürsten mit der Einrichtung so genannter Kunst- und Wunderkammern. Sachsen-Gothas neuer Herzog Ernst I. gab, noch ehe seine Residenz fertig gestellt war, 1647 den Auftrag zum Sammeln. Sein Interesse konzentrierte sich dabei vor allem auf Drucke; er legte damit den Grundstock des heutigen Kupferstichkabinetts von internationaler Bedeutung.
Ernst der Fromme, geboren am 25. Dezember 1601 in Altenburg und gestorben am 26. März 1675 in Gotha, war eine herausragende Persönlichkeit. Der erklärte Anhänger Martin Luthers gestaltete sein Herzogtum im protestantischen Sinne. Er reformierte das Bildungswesen mit Einführung einer allgemeinen Schulpflicht und schuf eine effiziente zentralistische Verwaltung. Sein paternalistischer Obrigkeitsstaat galt manchen Zeitgenossen als vorbildlich, Kritiker sprachen allerdings vom „religiösen Zwangsstaat“, in dem auch Hexenprozesse stattfanden. Auf den damals in anderen Häusern durchaus üblichen prunkvollen Hofstaat der Barockzeit verzichtete der Fürst. Die Mittel flossen teilweise in den Aufbau seiner Kunstsammlung.
Der Landesherr sah das Zusammengetragene auch als Instrument zur Erziehung und Bildung für den herzoglichen Nachwuchs (sieben Söhne) und seiner Hofbeamten. Für diesen Zweck eigneten sich die Drucke mit Bild und Text bestens – gleichsam als eine Art Lehrbücher. Die wertvollen und einzigartigen Flugblätter zeigen fast alle protestantische Gesinnung und entsprachen so voll der Glaubensausrichtung des Hauses Sachsen-Gotha.
Im Jahr 1659 listete der für das „Kabinett“ zuständige Kustos im ersten „Inventarium“ den Bestand auf – es umfaßte 70 Seiten. Eine Trennung nach Kunstgebieten gab es damals noch nicht, sie wurde erst 1712 veranlasst. So erschien die „Kunstcammer“ als unsortierte Zusammenstellung von Artefakten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auf Schloss Friedenstein bereits mehrere Hundert Einblattdrucke mit und ohne Typentext sowie Druckgraphiken Albrecht Dürers, Cranachs und ihrer Zeitgenossen. Diese Kunstwerke stammten nach den bisherigen Erkenntnissen wohl aus dem Besitz der bis 1547 in Wittenberg residierenden sächsischen Kurfürsten der ernestinischen Linie, aus dem auch Ernst I. durch die Erbteilung von 1640 seinen Anteil erhalten hatte.
Der Herzog kaufte, wie aus Aufzeichnungen jener Zeit hervorgeht, bei Kunsthändlern in Augsburg und Nürnberg ein. Beide Städte waren bedeutende europäische Zentren der frühen graphischen Kunst, des Holzschnitts und des Kupferstichs. Er ließ sich Blätter zeitkritischen und satirischen Inhalts beschaffen, die Szenen des Alltags und der Gesellschaft trefflich darstellten und in Texten beschrieben. Großes persönliches Interesse zeigte der Fürst an Darstellungen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Er hatte aus religiöser Überzeugung zusammen mit seinen Brüdern Bernhard und Wilhelm einige Jahre als Feldherr unter dem Oberbefehl des schwedischen Königs Gustav Adolf gegen die Armeen des katholischen Kaiserhauses Habsburg gekämpft. Nachfolger Ernsts I. erweiterten die Sammlungen. Während der Regentschaft des kunstorientierten Friedrich II. (1691 bis 1732) kamen mehrere Bände mit Graphiken aus dem Besitz des Gothaer Generals und Baudirektors Wolf Christoph Zorn von Plobsheim – er errichtete unter anderem zwischen 1708 und 1711 die fürstliche Sommerresidenz Schloss Friedrichsthal – in die Kunstkammer. Sie enthielten Portraits, Ornament- und Architekturblätter, topographische Ansichten und Risse von Festungen. Dadurch erhöhte sich der Bestand 1721, wie eine Inventur ergab, von 14.700 Blatt auf 21.705 Blatt. Der Erwerb der Arnstädter Münzsammlung war ein weiterer wertvoller Zuwachs für die Kunstkammer.
Für Jahrzehnte blieb das Kupferstichkabinett auf Schloss Friedenstein dann praktisch unverändert. Historiker stellten am Hof sogar ein gewisses Desinteresse für Graphiken fest. Erst die Regentschaft des weltoffenen Herzogs Ernst II. in den Jahren 1772 bis 1804 brachte neuen Aufschwung. Der durch die französische Aufklärung geprägte Herrscher, ein Mathematiker und Astronom, machte sein Land zu einem in Europa beachteten Zentrum der Wissenschaften und auch der Kunst. Als einer seiner Kunstkämmerer fungierte der in Rom und Paris (bei Houdin) ausgebildete Bildhauer Friedrich Wilhelm Doell (1750–1816), dessen Arbeiten in verschiedenen deutschen Städten zu sehen sind (unter anderem das Kepler-Denkmal in Regensburg).
Der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829) schuf für Ernst II. im Jahr 1783 das Historienbild „Konradin von Hohenstaufen und Friedrich von Österreich hören ihr Todesurteil beim Brettspiel“. Es befindet sich im Schlossmuseum. Der Künstler wurde vom Landesherrn gefördert und trug auf Grund seiner Freundschaft zu Johann Wolfgang von Goethe den Beinamen „Goethe-Tischbein“. Der Dichterfürst, ein Freund des Hauses, schätzte die Atmosphäre und die Kunstkammer auf Schloss Friedenstein sehr. Hier sammelte er auch Impulse für seine Arbeiten. Im Alter diktierte er seinem Sekretär Johann Peter Eckermann: „Auch in Gotha war ich früher oft und gern“.
Der an Graphiken interessierte Herzog Ernst II. sorgte auch für eine Erweiterung des Kupferstichkabinetts, dessen Ruf schon weit über die Grenzen des mitteldeutschen Fürstentums hinausging. Er gab den Auftrag zum Kauf deutscher Graphik aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. So kam eine besondere Rarität ins Schloss Friedenstein: Die Druckplatte zum Kupferstichporträt des Reformators Philipp Melanchthon, die Albrecht Dürer gefertigt hatte. Sie zählt zu den besonders herausragenden Stücken der Sammlung.
Zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfügte das Kupferstichkabinett schon über etwa 53.000 Drucke und 1.600 Handzeichnungen. Der von 1850 bis 1879 amtierende Direktor Heinrich Justus Schneider, Hofmaler zu Gotha, hatte die kontinuierliche Bestandsaufnahme angeordnet. Sie ergab einen Zuwachs des Bestandes im Vergleich zur Inventur des Jahres 1721 auf deutlich mehr als das Doppelte. Dieser bedeutete allerdings keine entscheidende qualitative Verbesserung für die Graphiksammlung. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass Schneider wie auch sein Vorgänger Johann Christian Kühner und die Nachfolger an der Spitze des Museums andere Sammlungsinteressen pflegten. Der nächste – und für Jahrzehnte letzte – Kauf wertvoller Blätter fand erst wieder 1905 statt, als Gothas Herzog Carl Eduard 418 Drucke, vor allem aus der Zeit Albrecht Dürers, erwarb.
In den politischen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg erklärte ein Arbeiter- und Soldatenrat am 9. November 1918 Gothas Herzog Carl Eduard für abgesetzt. Er selbst gab fünf Tage später seinen Thronverzicht bekannt. Dieser letzte Herr auf Schloss Friedenstein stammte aus dem englischen Königshaus und hatte als Herzog von Albany die Regierungsnachfolge in Gotha angetreten. Nach dem Erlöschen der von Ernst dem Frommen begründeten Linie Sachsen-Gotha regierten die Herzöge von Sachsen-Coburg und Gotha seit 1826 in Personalunion beide Länder. Ihre verwandtschaftlichen Verbindungen reichten in fast alle europäischen Monarchien, auch ins britische Königshaus. 1920 entstand das Land Thüringen.
Die Jahre der Weimarer Republik und der folgenden nationalsozialistischen Diktatur standen besonders für das Kupferstichkabinett unter einem schlechten Stern. Zur Lösung finanzieller Probleme griff die Museumsleitung auf die ihrer Meinung nach weniger bedeutenden Bestände der Sammlung zurück. Direktoren trennten sich auch von Graphiken, um Artefakte für andere Bereiche – beispielsweise Kunsthandwerk, Porzellan, Keramik – erwerben zu können. Wie man dann an Hand früherer Inventare feststellte, verschwanden auf diese Weise wertvolle niederländische Einblattdrucke, englische Farbgraphiken und Handzeichnungen aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Der Zweite Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen waren weitere Schläge gegen den Kunstbestand. Erst marschierten US-Truppen in Gotha ein, dann besetzte die Rote Armee die Stadt. Ein großer Teil der Sammlungen des Schlosses Friedenstein verschwand als Kriegsbeute in die Sowjetunion. Ende der fünfziger Jahre wurden die meisten Graphiken wie auch andere Kunstgüter, darunter 37 wertvolle Gemälde, wieder zurückgegeben. Die Museumsleitung begann 1965 mit einer Neuordnung und einer aktualisierten Bestandsaufnahme.
Die Bilanz für das Kupferstichkabinett wies erhebliche Verluste aus. Wertvolle Blätter waren verschwunden. Der jetzige Museumsdirektor Bernd Schäfer spricht davon, dass „durch widerrechtliche Entnahmen unterschiedlichster Personenkreise und aus verschiedenen Gründen“ der Bestand um ein Drittel dezimiert wurde. Die Museumsleitung bemüht sich jetzt im Rahmen ihrer engen finanziellen Möglichkeiten ständig, die entstandenen Lücken wieder zu füllen. Sie präsentiert auch die Graphiken auf internationalen Ausstellungen. So waren beispielsweise wertvolle deutsche Holzschnitte der Reformationszeit 1995 in Tokio zu sehen.
Das Kupferstichkabinett war seit seiner Gründung durch Ernst I. bis 1805 Bestandteil der universellen Herzoglichen Kunstkammer, kam dann aber zur Gemäldesammlung. Viele Direktoren des 18. und 19. Jahrhunderts – selbst schaffende Künstler und auch ein „Mechanikus“ strikt naturwissenschaftlicher Ausrichtung – sahen ihre Aufgaben nicht vordringlich in einer Erweiterung der Graphikbestände. Sie richteten ihr Augenmerk auf andere Interessengebiete und ihre Arbeit als Hofmaler. Als in Gotha die Herzogliche Kunst- und Naturaliensammlung 1879 in einem vom Architekten Franz von Neumann aus Wien errichteten Museumszweckbau im neoklassizistischen Stil eröffnet wurde, erhielten die Drucke eigene Ausstellungsräume, blieben aber organisatorisch Teil der Gemäldeabteilung. Erst 1976 erfolgte die sammlungskonsequente Trennung. Diese Eigenständigkeit hat sich bis heute bewährt.
Die gesamte Graphiksammlung auf Schloss Friedenstein besteht heute aus etwa 40 000 Blatt. Darunter sind 1 200 Handzeichnungen aus der Zeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Das wertvolle Kernstück des Kupferstichkabinetts ist die deutsche Druckgraphik aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert. Dazu gehören auch Arbeiten der Klassiker wie Albrecht Dürer, Lucas Cranach, Hans Sebald Beham, Hans Burgkmair sowie unbekannter Künstler. Einen weiteren „Schatz“ stellen die etwa 800 als Unikate erhaltenen Einblattdrucke mit und ohne Typentext dar. Sie lagen bis Anfang des 20. Jahrhunderts in der Herzoglichen Bibliothek und wurden erst vom damaligen Museumsdirektor Karl Purgold ins Kupferstichkabinett gegeben.
Das Kupferstichkabinett setzt sich aus verschiedenen Spezialsammlungen zusammen:
• Deutsche Einblattdrucke des 16. bis 19. Jahrhunderts
• Künstlergraphik des 16. bis 19. Jahrhunderts mit Werken u. a. von Dürer, Cranach, Chodowiecki sowie Blättern französischer, englischer und italienischer Künstler
• Portraitsammlung des 16. bis 19. Jahrhunderts
• Handzeichnungen des 16. bis 19. Jahrhunderts
• Gothana / Thuringia des 16. bis 20. Jahrhunderts
Das Schlossmuseum Gotha verfügt außer dem Kupferstichkabinett aus dem Erbe der Herzöge über einen großen, teils einzigartigen Kunstbestand. Die Gemäldegalerie zeigt das weltbekannte „Gothaer Liebespaar“, das erste selbständige Doppelporträt in der deutschen Malerei, entstanden um 1483/85. Besonders erwähnenswert ist auch der vierflügelige Altar aus der Reformationszeit, der auf 157 Tafeln die Lebensgeschichte Christi darstellt. Weiterer Schwerpunkt neben altdeutschen Gemälden sind holländische und flämische Meister des 17. und 18. Jahrhunderts.
In der Abteilung Plastiken befindet sich auch die umfangreichste Sammlung des klassizistischen französischen Bildhauers Jean Antoine Houdon (1741–1828) außerhalb Frankreichs; die Bestände an frühen Arbeiten des Künstlers sind umfangreicher als die im Louvre. Beachtlich sind auch die Stücke der Ostasiatischen Kunst, vor allem die japanischen Lackarbeiten. Die Ägyptensammlung gilt als die älteste bewusst zusammengetragene in Europa. Das Münzkabinett mit 120.000 Stücken ist eine der größten deutschen numismatischen Sammlungen. Dazu kommen noch umfangreiche Bestände an Kunsthandwerk, Porzellan und Gläsern.
Beim Bau des Schlosses ließ Herzog Ernst I. im Westturm ein „Comödiengemach“ einrichten. Es wurde 1683 zu einem Theater ausgebaut, dessen originale Bühnentechnik bis heute funktioniert. Hier gründete Conrad Ekhof (1720–1778) unter der Ägide von Herzog Ernst II. 1775 das erste deutsche Ensembletheater. Das Haus hat 165 Plätze und gehört heute zum Museum für Regionalgeschichte und Volkskunde, das auch eine einzigartige kartographische Sammlung von europaweiter Bedeutung besitzt. Im Ostflügel des Schlosses ist die historische Forschungsbibliothek untergebracht, zu deren Einrichtung Ernst der Fromme 1647 den Auftrag gegeben hatte. Seit 1999 gehört sie zur Universität Erfurt. Hier lagern etwa 550.000 Bände, von denen fast zwei Drittel aus dem 16. bis 19. Jahrhundert stammen, sowie etwa 10.000 wertvolle Handschriften des Abendlandes und des Orients.
Horst Heinz Grimm
Ob das wirklich so ist, muß wohl der Einzelne für sich selbst entscheiden. Das setzt voraus, daß sich jeder mit dem jeweils anderen Teil unseres Landes nicht nur oberflächlich und von Vorurteilen gelenkt, befaßt. Es setzt aber auch voraus, daß beide immer noch unterschiedlichen Gesellschaften die Eigenständigkeit der jeweiligen Biographie in den Jahren der Trennung anerkennen und die andere „Bezugskultur” zu verstehen versuchen. Grundlage jeder Beziehung ist Gemeinsamkeit. Das uns Verbindende ist die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Geschichte. Ausdruck dieser Gemeinsamkeit aus der Zeit vor der Trennung sind Literatur, Musik, die bildenden Künste schlechthin. Wenn wir nicht auf das Aussterben der in den Jahren der Trennung im Osten erzogenen Generationen warten und auf diese Weise
nur die Integration in die westdeutsche Gesellschaft ermöglichen, sondern uns um die Findung einer neuen gemeinsa¬ men Identität für das vereinte Deutschland bemühen wollen, eine Identität, in der West und Ost ihr Selbstverständnis finden können, dann müssen wir uns auch mit der Kunst dieser Epoche in Ostdeutschland befassen. Es sind gerade die bildenden Künste, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der konträren Entwicklung von zwei Landeshälften besonders deutlich werden lassen und so ein besseres Kennen- und Verstehenlernen ermöglichen. Leider ist unbe¬ stritten, daß man in Westdeutschland für die ostdeutsche Kunst wenig Interesse zeigt. Und wie sieht es mit diesem Interesse in Ostdeutschland aus? Zumindest in den Klein- und Mittelstädten besteht die Tendenz, bei den Museen zu sparen und ihre Existenz aufs Spiel zu setzen, wenn sie sich vorwiegend ostdeutscher Kunst widmen.
Im Museum Junge Kunst in Frankfurt (Oder) wird eine Sammlung gepflegt, wie sie an keinem anderen Ort in Deutschland in dieser Form und Zusammensetzung existiert. Hier wird in wechselnden Ausstellungen ostdeutsche Kunst vorgestellt, die unter ästhetisch qualitativen Gesichtspunkten das Beste aus den verschiedensten Blickpunkten vorstellt. Die hier vorliegende Darstellung der Sammlung ist kein Museumskatalog und schon gar nicht eine umfas¬ sende Beschreibung der ostdeutschen Kunst. Auch ist der Name „Junge Kunst“ kein Hinweis auf Werke junger Künstler oder auf die Kunst der neuen Medien. Die Zielstellung bei der Gründung des Museums 1965 in einer der östlichsten Provinzstädte der ehemaligen DDR und die Rolle, welche dabei die Kunst des sozialistischen Realismus mit seinem „Bild vom neuen Menschen“ spielte, erscheinen uns schon heute, nur wenige Jahre nach dem Zusammen¬ bruch einer untauglichen Gesellschaftsordnung, schwer verständlich. Unübersehbar bleiben aber die Folgen einer systembedingten Abgrenzung der Kunst in Ostdeutschland über mehrere Jahrzehnte von der parallelen Entwicklung des Westens. Gerade deshalb ist dieses überregional zu Unrecht kaum beachtete Museum
Dieses Buch soll durch die Bildauswahl auf die Vielschichtigkeit der Sammlung hinweisen und ihre Entstehung beschreiben. Es soll aber auch darstellen, wie sich das Sammlungs- und Ausstellungsprofil seit der Wiedervereinigung veränderte und was beibehalten wurde, um herauszuarbeiten, worin sich das Museum Junge Kunst heute von den Sammlungen zeitgenössischer Kunst in der gesamtdeutschen Museumslandschaft unterscheidet. Natürlich kann im Rahmen dieser Veröffentlichung auf die Komplexität des Verhältnisses zwischen Gesellschaft, politischem System und Kunst nur ansatzweise eingegangen werden.Deshalb sollen ausgewählte Literatur¬ hinweise2 die Möglichkeit eröffnen, bei Interesse differenzierter in die jeweilige Problematik einzudringen. Im Mittelpunkt dieses Buches ste¬ hen Werke der Malerei und Plastik aus den Jahren von 1945 – 1989, welche auf eine Vielschichtigkeit der Kunst in Ostdeutschland verweisen, die über das Regelwerk des Einför¬ migen hinausragt und die Grenzen eines Dogmas durchbricht. Auf Ar¬ beiten, die nach 1989 entstanden, ist in den Abbildungen und Texten ver¬ zichtet worden, da vor allem3 die Kunst vorgestellt werden soll, die sich innerhalb des abgeschlossenen Systems der DDR entwickelt hatte. Bewußt wird anhand einzelner Arbei¬ ten verdeutlicht, inwieweit die Auseinandersetzung mit dem Einzelwerk
oder einer Werkgruppe unerläßlich ist, um das Wesentliche kennenzulernen und im Rahmen des Ganzen real einschätzen zu können. Daß
auf die ästhetische Struktur von Kunst nehmen können, steht haben müssen, wird an verschiedenen Beispielen andererseits nicht folgerichtig Einfluß auf die ästhetische Wertigkeit optisch nachvollziehbare Gratwanderung demonstriert.
Den damit von mir beabsichtigten Zweck spricht die Aufschrift des neuen Pohlhofsgebäudes in den Worten aus: ,Der Jugend zur Belehrung, Dem Alter zur Erholung1, die ich mit der Bemerkung zu vervollständigen habe, daß Ersteres Haupt-, Letzteres Nebensache ist. Für junge Männer, die sich der Malerei-, Bau oder Bildhauer-Kunst oder der hohem Technik widmen und über das All¬ tägliche hinausgehen wollen, ist eine Bekanntschaft mit den großartig¬ schönen Formen notwendig, wie solche vorzugsweise der alt-griechischen und mediceisch-italienischen Zeit angehören. Dem zeitherigen Mangel dieses Bildungsmittels in meiner Vaterstadt soll das Gesammelte insoweit abhelfen, als dies überhaupt durch eine Vermischung von Original und Nachbildung möglich ist, da allerdings Werke der schönsten griechischen und italienischen Kunst-Epoche mit meinen beschränkten Mitteln nicht erworben werden konnten und daher nur in Nachbildungen vorhan¬ den sind. Dieser Umstand, in Verei¬ nigung mit dem vorher ausgesproche¬ nem Zweck, veranlaßte die Beschrän¬ kung meiner Sammlung auf folgende
Gegenstände: „Größere Kunst- und Reise-Werke;
• Gyps-Abgüsse berühmter Antiken; Gemälde-Copien der vorzüglichsten italienischen Meister der medicei- schen Zeit; Alt-italienische Original-Gemälde des 14., 15. und 16. Jahrhunderts; Griechisch-etrurische Gefäße.”
Diese Reihenfolge veränderte er im Vorwort zur 1848 erschienenen „Beschreibung der im neuen Mittel¬ gebäude des Pohlhofs befindlichen Kunstgegenstände“ und rückte die Bibliothek, das Herzstück der Samm¬ lungen, an die letzte Stelle. In unserer Übersicht werden wir uns an die ursprüngliche Abfolge halten.
Lindenau vermied das Wort Mu¬ seum, er sprach von Sammlung, An¬ stalt oder umschrieb den Begriff mit Hinweisen auf das neue Pohlhofs- gebäude bzw. das neue Mittelgebäude des Pohlhofs, das er 1845/46 durch den Leipziger Universitätsbaumeister Albert Geutebrück für seine Samm¬ lungen hatte errichten lassen.
Ihm ging es um das erzieherische Prinzip, um die Belehrung.dings Werke der schönsten griechi¬ schen und italienischen Kunst-Epoche mit meinen beschränkten Mitteln nicht erworben werden konnten und daher nur in Nachbildungen vorhan¬ den sind. Dieser Umstand, in Verei¬ nigung mit dem vorher ausgesproche¬ nem Zweck, veranlaßte die Beschrän¬ kung meiner Sammlung auf folgende
Gegenstände: „Größere Kunst- und Reise-Werke;
• Gyps-Abgüsse berühmter Antiken; Gemälde-Copien der vorzüglichsten italienischen Meister der medicei- schen Zeit; Alt-italienische Original-Gemälde des 14., 15. und 16. Jahrhunderts; Griechisch-etrurische Gefäße.”
Diese Reihenfolge veränderte er im Vorwort zur 1848 erschienenen „Beschreibung der im neuen Mittel¬ gebäude des Pohlhofs befindlichen Kunstgegenstände“ und rückte die Bibliothek, das Herzstück der Samm¬ lungen, an die letzte Stelle. In unserer Übersicht werden wir uns an die ursprüngliche Abfolge halten.
Lindenau vermied das Wort Mu¬ seum, er sprach von Sammlung, An¬ stalt oder umschrieb den Begriff mit Hinweisen auf das neue Pohlhofsgebäude bzw. das neue Mittelgebäude des Pohlhofs, das er 1845/46 durch den Leipziger Universitätsbaumeister Albert Geutebrück für seine Sammlungen hatte errichten lassen. Ihm ging es um das erzieherische Prinzip, um die Belehrung.
Wie sonst hätte er die in Hinblick auf Qualität und Umfang auch damals schon ein¬ zigartige Kollektion frühitalienischer Tafelbilder erst an die vierte bzw. dritte Stelle in der Aufzählung der Bestände setzen können.
Lindenau stellte ferner eine Kunstschule in der Dach-Rotunde des Museums in Aussicht, in der unent¬ geltlich Unterricht im freien und architektonischen Zeichnen sowie im Modellieren erteilt werden sollte. Am 4. Januar 1848 begann der Unterricht, die Interessenten hatten sich bis Dezember bei den Lehrern zu melden und „diesen die erforderliche Befä¬ higung nachzuweisen“.
Nicht das Allerweltsstück oder Arbeiten von Modekünstlern wurden erworben, sondern die Mecklenburger Sammler des 18. Jahrhunderts waren Kenner auf dem Gebiet der Malerei, der Skulptur, der Zeichnung und der Stiche. Aus dieser Zeit stammt der überaus qualitätvolle und geschlossene Teil der Sammlung. Den entscheidenden Schritt in Richtung einer namhaften
Gemäldesammlung für Schwerin tat Christian II. Ludwig
(1683 -1756). Zwischen 1704 und 1756 sind durch ihn
wesentliche Kunstkäufe getätigt worden und machen mit
einer großen Zahl wertvoller Exemplare die heutige
Sammlung alter Meister aus. Sein Gewährsmann, Kammer¬
diener von Hafften, ein besonderer Kenner der Kunst, reiste
wiederholt in die Niederlande und ließ umfangreiches
Material über zu veräußernde Sammlungen nach Schwerin
senden. Dieses wurde, sobald es den Herzog erreichte, einer
eingehenden und sorgfältigen Prüfung unterzogen, worauf sein Gebot nach Beratung mit den Sachverständigen folgte. Aquisiteure, die auf den Auktionen für Schwerin arbeiteten, waren in Den Haag der Kunstschriftsteller J. van Gool und in Hamburg der Maler G. D. Waerdingh, die Bilder italienischer, französischer, flämischer und holländischer Meister erwarben. Christian Ludwig entschied nach ausführli¬ cher Beratung selbst, oder er kaufte – wie dies im Falle Adriaen van Ostade, aber auch von der Bestellung bei Jan van Huysum bekannt ist – in den Ateliers der Künstler. Sowohl sein Sohn Friedrich als auch dessen Neffe sammelten im großen Stil. So qualitätsvoll wie Christian II. Ludwig sammelte sein Sohn nur zu Lebzeiten des Vaters.
Wo es den mecklenburgischen Herzögen nicht gelang, namhafte Künstler ins nördliche Schwerin zu ver¬ pflichten und hier zu beschäftigen, kauften sie in großem Stil deren Werke für die Schweriner Sammlung. Umfangreiche Konvolute von Werken zeitgenössischer Maler wurden erworben. Von Jean Baptiste Oudry wurden dreiundvierzig Gemälde und sechsundfünfzig farbige Zeichnungen erworben, von denen heute, neben den Zeichnungen, vierunddreißig Gemälde in der Sammlung erhalten sind. 1993 konnte die Vorzeichnung zum Gemälde “Erlegtes Wild” von 1721 der Sammlung zugefügt werden. Als Oudry den Erbprinzen 1739 in Paris porträtierte, besaß die Galerie in Schwerin schon eine Reihe seiner hochgeschätz¬ ten Gemälde.
Aus dem an Alexander Thiele ergangenen Auftrag über acht¬ undzwanzig Prospekte mecklenburgischer Städte und Landschaften befinden sich neben sechzig Zeichnungen zehn Gemälde in Schwerin. Zwölf Bilder gingen im II. Weltkrieg verloren. Von Balthasar Denner fanden fünfundsiebzig Bilder Eingang in die Sammlungen. Von Georg David Matthieu besitzt das Haus fünfundvierzig Gemälde und acht auf Holz gemalte Silhouetten. Christian Friedrich Reinhold Lisiewsky wird bis 1794 neben Dietrich Findorff Hofmaler, von dem neununddreißig Stücke erhalten sind. Christian Ludwig Seehas arbeitet bis 1802, Johann Heinrich Suhrlandt bis 1827 als Hofmaler in Ludwigslust. Über Charles Maucourt, Hofmaler in Berlin, der Christian II. Ludwig porträtiert hatte und der 1750-1752 in Mecklenburg arbeitete, gelangten eine größere Zahl französischer Gemälde und Skulpturen in die Sammlung, worunter sich so bedeutende Arbeiten wie die
Porträtbüste Rousseaus mit Perücke, die Porträtbüste Molieres, diejenige Volairs, alle 1778 entstanden, sowie die Porträtbüste der Kaiserin Katharina II., von 1773, befinden.
Mit dem Sieg Napoleons und der Besetzung Mecklenburgs durch die Franzosen wurden 1807 bedeutende Teile der Sammlung abtransportiert. Der Generaldirektor des Grand Louvre Denon wählte 209 Gemälde, darunter die hervorragendsten Stücke, und bestimmte sie damit zur Überführung nach Paris, wo er sie der Sammlung des Musee Napoleon im Louvre einverleibte. Nach Rückgabe des vollständigen Bestandes 1815, dem ein Gemälde von Louis Leopold Boilly als Ersatz für einen Oudry hinzugegeben worden war, wurde diese Sammlung in Schloß Ludwigslust eingerichtet.
Friedrich Schlie wurde für das 1876 von Herrmann Willebrand geplante und 1882 eröffnete Museum als Direktor berufen, Er vereinigte die hochrangigen Bestände aus den Schlössern Schwerin, Ludwigslust und Neustadt in einer permanenten Ausstellung. Zur Einrichtung der Sammlung schreibt er im kurzen Verzeichnis der Bilder 1883 über die Anordnung der Sammlung in einzelnen Räumen: “Die Scheidung der älteren Schulen ist, dem Farbenbouquet zu Liebe, welches jede Wand als ganzes Bild für sich darstellt, nicht mit äußerster Strenge durchgeführt. So findet sich z. B. gelegentlich ein Vlame unter Holländern und umgekehrt.” 1891 gelingt es Schlie, die Sammlung David Thormann aus Wismar zu erwerben. Mit ihr kommen u.a. beide Tafeln von Jan van Goyen in die Sammlung.
Von 1902 bis 1905 erhält das Landesmueum einen großzügigen Erweiterungsbau. 1919 gehen die Sammlungen in Landesbesitz über. Das Museum erhält eine Dependance im Schloßmuseum, das in den ehemaligen Privaträumen der herzoglichen Familie eingerichtet wird. Damit avanciert der Alte Garten in Schwerin mit den beiden großen Museen und dem Theater zu einem repräsentativen und eindrucksvollen kulturellen Zentrum in Deutschland. Walter Josephi erwirbt 1926 zeitgenössische Kunst. Auf diese Weise konnten der Sammlung bedeutende Gemälde von Wilhelm Trübner, Franz von Stucks “Judith”, ein hervor¬ ragendes Stilleben von Carl Schuch, Rudolf Bartels “Seifenblasen”, Barlachs “Wiedersehen” sowie die Gemälde von Max Liebermann und Lovis Corinth zugeführt werden.
Mit dem Zugriff der Nazionalsozialisten auf die neueren Strömungen in der Kunst verlor die Schweriner Sammlung von dem Wenigen dieser Zeit das Beste: u.a. Corinths “Walchenseelandschaft” und Barlachs
Das Wiedersehen . Schließlich endet die museale Arbeit mit der Einrichtung eines Lazaretts im Schloß und einer Uniformfabrik 1943 im Museum vollständig.